Kalt und dunkel ist es gewesen, liebe Leserinnen und Leser, als wir uns aufgemacht haben in den frühen Morgenstunden: zur Wallfahrt von einem kleinen Dorf im Kulmbacher Land hin zur Basilika Marienweiher. Ich war damals eine junge Zeitungspraktikantin und sollte eine Reportage über den Tag schreiben. Und so reihe ich mich ein in den Zug, bemüht, nicht aufzufallen bei der ersten Wallfahrt meines Lebens: Vorneweg die Ministranten mit dem Kreuz, dann die vier kleinen Fahnenträger und der Vorbeter, schließlich wir, die Pilgernden. So ziehen wir los durch den Ort, vorbei an Häusern, deren Rollläden noch geschlossen sind, dann den kleinen Waldweg hinauf, weiter zu der Lichtung mit dem Blick über die Felder, auf denen weiche Nebelschwaden liegen.

Die Männer und Frauen gehen zu zweit, zu dritt nebeneinander. Man kennt sich, schweigt gemeinsam oder unterhält sich in gedämpftem Ton, bis wieder das Rosenkranzgebet angestimmt wird. Und mittendrin gehe ich, die angehende evangelische Theologin, die ihren Glauben vor allem weltzugewandt und politisch versteht, skeptisch gegenüber Riten und geprägten Formen. Mir ist fremd, was ich hier erlebe, und meine Offenheit an diesem Morgen bezieht sich vor allem darauf, aufzunehmen, was sich gut zitieren, pointiert darstellen lässt. Bis der Moment kommt, an dem meine Distanz kippt.

 Wir kommen in der barocken Basilika in Marienweiher an. Das Licht der Kerzen empfängt uns, ihr Schein und die Wärme tun gut nach dem Gang durch die Dämmerung. Zügig verteilen wir uns auf die Bankreihen, die Messe beginnt. Kurz vor der Kommunion gehen alle noch einmal in die Knie, neben mir, vor mir: Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.

Aus den Augenwinkeln heraus blicke ich auf meine knienden Banknachbarn. Als Protestantin bin ich bisher immer stehen geblieben, wenn alle auf die Knie fielen. In diesem Moment aber spüre ich eine schwer erklärbare Sehnsucht, es den Menschen um mich herum einfach gleichzutun. Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund: Ich muss nichts beweisen, muss niemanden zeigen, wer und was ich bin. Ich kann mich fallen lassen. In diese Worte. In diese Geste. In meinen Glauben.

Die Macht der Liebe

„Fallt mit Danken, fallt mit Loben“: Es gibt verschiedene Arten, im Glauben niederzuknien – manchmal mag das im Wortsinn sein, manchmal in Gedanken, im Herzen, etwa, wenn ich Kantaten wie diese von Johann Sebastian Bach höre. Klänge, in die ich mich fallen lassen kann. 

Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach: Die Worte aus der Liturgie gehen zurück auf eine Geschichte im Matthäusevangelium. Sie werden einem Mann zugeschrieben, von dem ein solcher Satz nicht unbedingt zu erwarten war.

   Als Jesus nach Kapernaum hineinkam, trat ein Hauptmann zu ihm, der ihn bat und sprach: Herr, mein Diener liegt zu Hause gelähmt und wird schrecklich gequält. Und Jesus spricht zu ihm: Ich will kommen und ihn heilen. Der Hauptmann aber antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach trittst; aber sprich nur ein Wort, und mein Diener wird gesund werden. Denn auch ich bin ein Mensch unter Befehlsgewalt und habe Soldaten unter mir; und ich sage zu diesem: Geh hin!, und er geht; und zu einem anderen: Komm!, und er kommt; und zu meinem Knecht: Tu dies!, und er tut es.
Als aber Jesus es hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch, bei keinem in Israel habe ich so großen Glauben gefunden. […] Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin, dir geschehe, wie du geglaubt hast! Und der Diener wurde gesund in jener Stunde. (1)

Es ist das Gipfeltreffen der Vertreter zweier Mächte, wie sie auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten: Auf der einen Seite der Hauptmann, Teil der römischen Besatzungsmacht, gewohnt zu befehlen, gewohnt zu gehorchen. Er kennt seinen Ort in der Hierarchie, kennt ihre Regeln und Instrumente: Gesetze, Durchsetzung von Recht, staatliche Gewalt. Auf der anderen Seite: Jesus von Nazareth, einer von denen, die unter der Besatzung der Römer stehen, auch leiden. Hierarchien dreht der Gottessohn gerne um, bezeichnet die letzten als die ersten, verkündet, dass Erniedrigte erhöht werden. Seine Instrumente: Mitgefühl, Vergebung, Liebe. Erfolg ist keiner der Namen Gottes, hat Martin Buber einmal gesagt, und das Christentum ist keine Religion der Sieger.

Die Machtbereiche scheinen damit klar voneinander abgegrenzt zu sein. Das stört aber weder den Hauptmann noch den Gottessohn. Sie überschreiten die Grenzen. Der Hauptmann tut den ersten Schritt – hinein in ein anderes Verständnis von Macht, hinein in das Gebiet des fremden Glaubens, hinein auch in die ungewohnte Rolle des Bittstellers: Er sorgt sich um seinen Knecht. Das ist an seiner Bitte anders in der katholischen Liturgie, in der sich der Ruf auf die eigene Seele bezieht. Die Not eines Kranken also bewegt den Hauptmann zu seinem Gang und, woher auch immer er es hat, sein festes Vertrauen: Wenn einer ihm helfen kann, dann Jesus.

 Und Jesus? Er staunt, dass der Hauptmann diese Grenzüberschreitung wagt, dass er einen solchen Glauben in ihn setzt. Und dann tut er es ihm gleich und missachtet seinerseits vermeintliche rote Linien: Er wird diesem Mann helfen, ganz egal, welche Position, welche Religion er hat. Er sieht allein den Menschen, der zu ihm kommt und ihm vertraut. Ihm und der Macht der Liebe, für die Jesus steht. Die Macht der Liebe: Keine Macht, die in die Knie zwingt. Dafür: Zum Niederknien schön. 

Ich brauche Dich. Ein großer Satz

Dass der Hauptmann mit seiner Bitte zu Jesus geht, ist mutig. Er riskiert einiges dabei: Er könnte ausgelacht werden oder zurückgewiesen. Aber irgendwas scheint ihm zu sagen, dass er wagen kann, sich dem Mann aus Nazareth auf diese Weise auszuliefern. Und so wie ihm ging es anderen Menschen in den biblischen Geschichten offensichtlich auch. Jesus scheint ausgestrahlt zu haben, dass man zu ihm kommen kann, sich bedürftig zeigen darf. 

Ich brauche dich. Ein großer Satz. Ein Satz, mit dem Menschen den Bereich kalkulierbarer Macht verlassen und Neuland betreten: ein Land, dessen Grenzen offen und dessen Wege unvorhersehbar sind, ein Land wie ein weißer Fleck auf der großen Karte des Lebens, voller Überraschungen, immer wieder. Mutig die, die sich in dieses Land wagen. Ich brauche dich: Der Theologe Fulbert Steffensky schreibt: „Es ist das größte Vertrauen, das wir einander schenken können, wenn wir unsere Unabhängigkeit aufgeben und uns in die Liebe des anderen begeben. […] Die Kälte des Lebens ist da hereingebrochen, wo man einander sagt: Ich brauche dich nicht mehr! Der Satz: Ich brauche Dich!  reißt Mauern ein, man ist nackt und schutzlos […]. Die Stärke dessen, der „am mächtigsten allein“ ist, ist eher eine tödliche Stärke. Es ist die Herrschaftsstärke, die etwas ausrichtet, aber nichts gebiert. Jemanden brauchen und sich brauchen lassen ist Lebensreichtum.“ (2)

Ich brauche dich. Es kostet Überwindung, es braucht Vertrauen, diese Worte zu sagen, diesen Zugangscode hinein in den Machtbereich der Liebe. Es lohnt sich, sagt die Geschichte vom Hauptmann, und zieht mich sanft ins Gebet, ob im Stehen oder Knien: Ich brauche Dich, Gott. Es lohnt sich und macht das Leben reicher, sagen mir immer wieder auch Erfahrungen im Alltag: Wenn sich wieder einmal die Spirale aus Angriff und Verteidigung, aus Beharren und Selbstschutz dreht, und einer wagt es dann, die Waffen zu strecken. Indem er „Es tut mir leid“ sagt oder eben „Ich brauche dich“.  Dann kann es geschehen, dass etwas Neues beginnt in einer Beziehung, mit Kollegen, Freunden, in der Familie. Etwas, das vielleicht mit Tränen, aber auch mit einer Leichtigkeit daherkommen kann, die längst verloren schien. Und vor allem: Das nicht auf Sieg und Niederlage aufbaut. Sondern den, der sich öffnet und schutzlos macht, wärmt und stärkt. So, wie ich es aus dieser Fabel seit Kindertagen kenne:

Einst stritten sich die Sonne und der Wind, wer von ihnen beiden der Stärkere sei, und man ward einig, derjenige solle dafür gelten, der einen Wanderer, den sie eben vor sich sahen, am ersten nötigen würde, seinen Mantel abzulegen. Sogleich begann der Wind zu stürmen; Regen und Hagelschauer unterstützten ihn. Der arme Wanderer jammerte und zagte; aber immer fester wickelte er sich in seinen Mantel ein und setzte seinen Weg fort, so gut er konnte. Jetzt kam die Reihe an die Sonne. Mit milder und sanfter Glut ließ sie ihre Strahlen herabfallen. Himmel und Erde wurden heiter; die Lüfte erwärmten sich. Der Wanderer vermochte den Mantel nicht länger auf seinen Schultern zu erdulden. Er warf ihn ab und erquickte sich im Schatten eines Baumes.

Erstaunlich, was die Sonne vermag. Erstaunlich auch, was Menschen vermögen, die sich der Macht der Liebe anvertrauen und dabei auf jemanden stoßen, bei dem sie sich schwach zeigen dürfen. Ich liebe die, deren Herzen schwanken, singt Anne Sylvestre. Die Chansonsängerin, die vor zwei Jahren gestorben ist, hatte in ihren Liedern immer wieder die im Blick, die ihre Unsicherheiten offenlegen, aus traditionellen Rollen herausfallen, Menschen, die nicht immer logisch sind. Geliebt dennoch. Oder gerade deswegen. 

Demut und Mut. Zweitakt des Glaubens

Wir sind Bettler, das ist wahr: Das sind die letzten Worte Martin Luthers, die er kurz vor seinem Tod aufgeschrieben hat. Ein geistlicher Kniefall sozusagen auf dem Sterbebett: Hinter Luther lag ein bemerkenswertes Leben. Er konnte sich gewiss sein, als einer der Großen in die Geschichte einzugehen. Trotzdem ist sein letzter Satz ein demütiger Satz, aus dem vielleicht auch Schuldbewusstsein sprechen mag, vor allem aber die Erkenntnis: Ich brauche Dich, Gott. Es ist wohl Gnade, mit so einem Satz am Ende eines Lebens alles Sorgen und Mühen ablegen zu können, um dann ein letztes Mal zu fallen, in seine Hand. 

Wir sind Bettler, das ist wahr: Dennoch erschöpft sich der Glaube nicht darin, die eigene Bedürftigkeit zu zeigen und anzuerkennen. Wer könnte das besser bezeugen als wiederum Martin Luther: Der berühmteste Satz, der ihm zugeschrieben wird, fiel schließlich nicht am Ende seines Lebens, sondern als er vor dem Reichstag zu Worms 1521 seine Thesen nicht widerrufen wollte und stattdessen, zumindest sinngemäß, sagte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.“ Ein Satz, der für Erich Kästner ins Deutsche Museum gehörte, ins Raritätenkabinett. 

Sollte ein Museumsdirektor dem Vorschlag folgen, dann bitte nur, wenn Luthers Satz vom Bettler gleich in die Vitrine daneben kommt.  Denn beides gehört im Glauben untrennbar zusammen: Die eigene Bedürftigkeit zeigen, sich der Macht der Liebe anvertrauen. Und dann: Weitergehen und eintreten für das, was in Gottes Namen sein soll. Wenn zum einen nicht das andere kommt, fehlt etwas. Demut und Mut, gebeugte Knie und aufrechter Gang: Es ist ein Zweitakt, von dem die Geschichten unseres Glaubens erzählen.

Ein Zweitakt, der herausfordert: Es braucht nur einen Blick in die Nachrichten, oft auch nur einen Blick in das eigene Leben, um zu sehen: Das alte Spiel um Kräftemessen, Sieg und Niederlage wird immer wieder neu aufgelegt. Die Spirale der Gewalt dreht sich unermüdlich weiter, ihre kreisenden Bewegungen scheinen ein Naturgesetz zu sein, wie die Umlaufbahn der Erde um die Sonne. Und es gibt Tage, an denen die Verlockung groß ist, einfach am Boden der Realität liegenzubleiben.

 Hinfallen, Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen, sagt ein Sprichwort. Ich lese es durch die Brille des Glaubens und formuliere um: Sich fallenlassen. Sich aufrichten lassen. Die Krone richten, die den Kindern Gottes verheißen ist. Und dann: weitergehen. Weitergehen, in aller Demut: Wir werden diese Welt nicht retten, das wird ein anderer tun. Weitergehen, gerade deshalb voller Mut und mit dem Auftrag in Kopf, Händen und Beinen, den uns der Glaube gibt. Der Theologe Lothar Zenetti hat ihn einmal in ein kleines Gedicht gefasst, Konstantin Wecker hat es vertont, und singt es hier gemeinsam mit Reinhard Mey.  

Etwas wagen. Für eine bessere Welt

Es macht mir Mut, immer wieder Menschen zu sehen, die auf diese Weise, aufrecht und Widerständen zum Trotz durchs Leben gehen – auf der großen Bühne der Weltgeschichte, aber auch in meinem Alltag, hier und jetzt: Da ist die Integrationslotsin, die in unserer Region unermüdlich und mitreißend herzlich Projekte für Menschen mit Migrationshintergrund initiiert, die Brückenbauer zwischen den Kulturen ausbildet, weil sie sich nicht abfinden mag mit Ausgrenzung und Abschottung. Da ist der befreundete Pfarrer, der trotz spöttischer Blicke auf jeder Zugfahrt sein Collarhemd trägt, weil er erkennbar und ansprechbar sein will für den, der seine Hilfe suchen könnte. Da ist die Studentin, deren leidenschaftliches Engagement für die Rettung des Planeten mich immer wieder zum Nachdenken und Umdenken bringt. Da sind die jugendlichen Sternsinger, die durch unser Viertel ziehen und für Kinderschutzprojekte in Indonesien und anderswo sammeln, und sie tun das, obwohl es heute alles andere als selbstverständlich und angesehen ist, vor Türen zu singen und Häuser zu segnen.

Da sind so viele, die etwas wagen für eine bessere Welt. Die aufstehen und Nein sagen, wenn andere schweigen. Die es wagen zu glauben, wenn alle zweifeln. Die ein Licht anmachen, wo es dunkel ist. So, wie der Gottessohn es vorgelebt hat. 

Ich muss nicht immer stark sein

In der Basilika Marienweiher, liebe Leserinnen und Leser, ist die Messe zu Ende. Wir erheben uns wieder aus unseren Bänken und gehen nach draußen. Die Menschen ziehen zurück in ihre Ortschaften, und auch ich gehe nach Hause, an meinen Schreibtisch. Der Alltag hat uns wieder. Das Erlebte aber hallt nach.

Herr, ich bin nicht würdig, dass Du einkehrst unter mein Dach, aber sprich du nur ein Wort, so wird meine Seele gesund: Es hat ihr gut getan, meiner Seele, dieses Erlebnis bei der Wallfahrt damals. Die Erfahrung hat mir die Scheu davor genommen, auch bislang fremde Gesten einmal zu wagen. Gesten, die auf je ihre Weise sagen: Ich muss nicht immer stark sein. Es gibt auch Zeiten, in denen ich mich fallenlassen lassen darf und – ob mit dem Körper, mit Worten oder in Gedanken – Gott sagen darf, was auch der Hauptmann damals gewagt hat: Ich brauche Dich. Damit ich weitergehen kann.

 

(1)  Elberfelder Bibel 

(2)  Fulbert Steffensky: Ich brauche dich. In: Publik-Forum Extra Thema, Ich selbst (Januar 2016), S. 6-8

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags um 10.05 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

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