Abschiedsmomente

Immer wieder fordert er heraus – der Moment, in dem sich Menschen verabschieden müssen: Die Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr rücken unaufhaltsam weiter, die Lichter des herannahenden Zugs sind bereits zu erahnen, die Menschen am Bahnsteig stehen von der Bank auf, greifen zu ihren Koffern, jetzt gilt’s für alle, deren Wege sich hier trennen: Eine letzte Geste – eine unbeholfene oder feste Umarmung, ein flüchtig dahingehauchter oder ein nicht enden wollender Kuss. Rasch noch die letzten Abschiedsworte, kurz bevor der Zug sie übertönen wird: Schön, dass Du da warst! Pass auf Dich auf! Ich denk an Dich. Du schaffst das schon! Der Zug fährt ein, und manchmal scheint es, als würde der Moment des Abschieds wie in einem Brennglas zeigen, was Menschen einander bedeuten, was sie dem anderen mitgeben wollen. Wohl deshalb sind mir Abschiede, so schwer sie oft auch fallen, so wertvoll geworden: Weil sie oft etwas offenbaren, in Worten oder stumm, was sonst verdeckt geblieben wäre.

Ich denke an den immer gleichen Abschied von meiner Großmutter, als ich ein Kind war: Wir steigen nach dem sonntäglichen Besuch ins Auto, meine Großmutter kommt noch einmal zu uns an die Rückbank geeilt, es folgt die immer gleiche Ermahnung, brav zu sein, und immer rechtzeitig, bevor es ernst werden kann, drückt sie uns eine Tafel Schokolade in die Hand, Reminiszenz an die Leckereien, die wir im Lauf des Sonntags bei ihr im Übermaß genossen haben. Anschließend eilt sie gemeinsam mit meinem Großvater zur Parallelstraße, damit wir sie dann, wenn wir mit dem Auto um die Ecke gefahren sind, noch einmal fröhlich winken sehen können. Wir fahren - voller Vorfreude auf den Schokoladengenuss - der neuen Woche entgegen, und meine Großmutter gibt mir mit: Abschiede können ernst und fröhlich zugleich sein, und auch, wenn eine Trennung schwer fällt, bietet das Leben danach wieder seine Freuden. Lebensweisheit, in eine gute Minute gepackt.

Abschiede sind besondere Momente, verdichtete Beziehungen, die in Erinnerung bleiben. Manchmal werden Worte gesagt, die den anderen ein Leben lang begleiten werden, die einer Herberge gleichen, in die man sich bergen kann, immer wieder. Ich wünsche dir Mut und Fröhlichkeit, sagte eine Freundin nach einer kurzen Stille vor Jahren beim Abschied, und ich erinnere mich an ihre Worte bis heute. Von einem anderen Freund habe ich gelernt, dass manche Abschiede am besten wortlos geschehen, weil Worte manchmal zu klein sind für das, was Menschen verbindet oder weil sie überflüssig sind angesichts dessen, was man im Inneren mitnimmt an Bildern, an gemeinsam Erlebtem, das nicht zerredet werden soll. Abschiede gehören zum Leben, es ist gut, wie es ist, und wir nehmen aus jeder Begegnung etwas mit. Keiner hat dieses Gefühl für mich schöner in Worte gefasst als Reinhard Mey in seinem Lied "Abschied".

Abschiedsworte, die zum Vermächtnis werden

Es gibt kleine Abschiede. Das sind die, bei denen ich davon ausgehen kann, dass sich unsere Wege bald wieder kreuzen werden. "Bis in zwei Wochen", rufe ich als Kind meiner Großmutter fröhlich zu, in dem festen Vertrauen, dann auch wieder bei ihr zu sein. Daneben gibt es noch die anderen Abschiede, bei denen die Formel "Auf Wiedersehen" Makulatur wäre, weil Menschen ahnen, es wird wohl das letzte Mal sein, dass sie sich sehen. Abschiede für immer. Meistens gibt es einen längeren Zeitraum, in dem wir damit rechnen müssen, dass wir uns möglicherweise nicht mehr sehen: Wenn einer schwer krank ist oder sehr alt. Wann der Abschied dann wirklich endgültig war, wissen wir in den meisten Fällen erst im Rückblick, weil sich der Tod nicht an ein Drehbuch hält und uns damit anhält, jeden Abschied so zu gestalten, dass er für immer sein könnte. Wir wissen vorher nicht, wann es die letzte liebevolle Ermahnung war, das letzte Winken, das letzte Mal, dass man heimfuhr und jemandes Enkelkind war. Und vielleicht ist es auch gnädig, dass sich die Endgültigkeit des Abschieds erst im Nachhinein herausstellt, weil die Trennung sonst zu wehgetan hätte. Und wie gut, wenn über die Jahre hinweg immer wieder gesagt und vermittelt wurde, was man einander bedeutet, was man einander mitgeben will.

Manchmal gibt es sie aber auch: bewusste Abschiedsworte, ein Vermächtnis. Menschen ziehen noch einmal Lebensbilanz und formulieren eine Botschaft an Nahestehende für die Zeit, in der sie selbst nicht mehr da sein werden. Ich denke an den schwerkranken Mann, den ich in seinen letzten Wochen begleitet habe. Oft saßen seine Frau oder eines seiner Kinder mit im Krankenzimmer. Und immer wieder hat er zurückgeblickt und resümiert, was er aus dem Erlebten gelernt hat - und wie wir es vielleicht schaffen könnten im Leben. Einer seiner Sätze war: Schau auf die, die du bewunderst, aber nicht voll Neid, sondern schau dir ab, was du lernen kannst von ihnen. Das ist mir in Erinnerung geblieben.

Abschiedsworte, die mich begleiten. Zu ihnen zählen auch die Zeilen des Schriftstellers Heinrich Böll, geschrieben wenige Wochen vor seinem Tod an seine Enkeltochter Samay. Ein kleines Gedicht, das mich nicht mehr loslässt, seitdem ich es gelesen habe.[1]

Wir kommen weit her, liebes Kind, und müssen weit gehen. Keine Angst. Alle sind bei dir, die vor dir waren

Deine Mutter, dein Vater, und alle, die vor ihnen waren.

Weit weit zurück. Alle sind bei dir. Keine Angst.

Wir kommen weit her und müssen weit gehen liebes Kind.

Keine Angst. Das ist das Vermächtnis Heinrich Bölls. Letzte Worte machen nur Sinn, wenn sie mit der Haltung eines Menschen zusammengehen – so, wie es bei Heinrich Böll der Fall war, der keine Auseinandersetzung mit Staat und Klerus scheute, wenn es um seine Überzeugungen ging. "Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben", das war sein Credo. Er trat aus der Kirche aus, verstand sich weiterhin als gläubigen Christen, er hat gelebt, was er der Enkeltochter mitgeben wollte zum Abschied: Keine Angst. Nicht vor Autoritäten, nicht vor Konventionen, nicht vor dem Leben. So sollte es auch die Enkeltochter erfahren, eingebettet in einen Familienzusammenhang über die Zeiten hinweg.

Keine Angst. Mich berühren diese Zeilen Bölls auch deshalb, weil sie mit dem Cantus Firmus des Neuen Testaments spielen. Ich verstehe sie als eine Variation des biblischen "Fürchte dich nicht".

Keine Angst: Diese Worte prägen auch die Abschiedsrede Jesu an seine Freunde, so, wie sie im Johannesevangelium überliefert ist und über diesem Sonntag steht.

Ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben. […] denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater. […] In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. (Joh 16, 23b-33 i.A.)

Keine Angst. Das ist es, was Jesus den Jüngern mitgeben will, bevor er geht: Keine Angst vor der Zeit, in der er nicht mehr unter ihnen sein wird. Er ist trotzdem da, auf nicht fassbare, aber immer wieder spürbare Weise. Und mit der Geschichte seines Lebens, die dieses "Keine Angst" in unzähligen Episoden erzählt. Mit dem "Fürchtet euch nicht" der Engel hat sein Weg auf Erden begonnen, und später, als das Kind in der Krippe zum Mann geworden ist, füllt er mit allem, was er tut und sagt, dieses "Fürchtet euch nicht" mit Leben. Er holt die nach vorne, denen das Leben Angst macht, die ohne Rechte sind in dieser Zeit. Er berührt die Aussätzigen. Er verachtet die Gewalt der Machthaber. Er richtet auf, die vom Leben gebeugt sind, lenkt den Blick himmelwärts, weil das Leben schön ist und süß, trotz allem. Und die Kinder Gottes üben den aufrechten Gang: die Ausgegrenzten, die Gebrochenen, die Verirrten - und alle, die sich in ihren Geschichten wiederfinden. Keine Angst, ihr seid geliebte Kinder Gottes.

Das ist es, was Jesus in seinen Abschiedsreden den Freunden mitgeben will: Keine Angst vor der Zeit ohne mich, ihr seid geborgen bei Gott, dem Vater im Himmel – oder mit den Worten des 91. Psalms gesprochen: Er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.

Keine Angst – auch wenn das Leben Angst macht

Seid getrost. Habt keine Angst. Das ist das Vermächtnis Jesu. Es gibt Tage, da hilft mir der Gedanke an dieses Vermächtnis, an diese Abschiedsworte. Da halten sie mich aufrecht, da helfen sie mir dabei, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden und aufgeblasene Ängste zusammenschnurren zu lassen auf ein gerechtfertigtes Maß. Keine Angst, seid getrost. Manchmal kann ich sie hören, diese Abschiedsworte.

Dann wieder gehen sie unter oder wirken lächerlich, weil das Leben mir laut zuruft: Habe Angst, du hast allen Grund dazu! Weil die Abschiede, die mir das Leben beschert, allzu weh tun, weil es herzzerreißende Abschiede gibt von Menschen, die mir nahe stehen, und deren Leben noch lange nicht fertig erzählt zu sein scheint. Weil dazu so viele andere unwiderrufliche Abschiede kommen, auch in meinem Umfeld, die ohne Sinn sind: der Abschied von der Hoffnung auf eine Familie, der Abschied von der Hoffnung auf ein erfülltes Berufsleben, der Abschied von dem Wunsch auf Versöhnung. Da macht der unaufhaltsame Fluss des Lebens auch Angst, weil die Jahre zerrinnen und so viele ungelebt erscheinen. Seid getrost? Ihr seid geliebt? Und wir stehen am Bahnsteig des Lebens, und die rastlos einfahrenden Züge übertönen, was uns als Vermächtnis Jesu zugerufen wird.

Keine Angst. Seid getrost. Mir hilft es, wenn andere dieses Vermächtnis auf ihre Weise wieder laut werden lassen, wenn sie davon erzählen, wie es in ihrem Leben spürbar wurde.

Jüngstes Beispiel ist für mich die mitreißend verfilmte Autobiographie des großen Entertainers Hape Kerkeling "Der Junge muss an die frische Luft". Tieftraurig und zugleich herzerfrischend und beglückend, eine Geschichte auf dem schmalen Grat zwischen Lachen und Weinen. Kerkeling erzählt seine Kindheit inmitten seiner warmherzigen großen Familie im Ruhrpott der 1970er Jahre. Dann, nach einer misslungenen Operation, fällt seine Mutter in eine tiefe Depression. Der Bub versucht immer wieder, mit seinem komödiantischen Talent die Mutter aufzuheitern, ihr die Freude am Leben zu erhalten. Es kann ihm nicht gelingen. Die Mutter nimmt sich das Leben. Eine Welt bricht zusammen, es gibt keinen billigen Trost. Und trotzdem, das macht den Zauber dieser Erinnerungen aus: Der Junge fällt nicht ins Bodenlose, sondern wird getragen von einem Grundvertrauen ins Leben und von einer Grundheiterkeit, trotz allem, vermittelt auch durch wunderbare Menschen um ihn herum. Und so wird Hape Kerkeling schließlich resümieren können: "Selbst wenn mir in meiner Kindheit das Schlimmste widerfahren ist, was einem Kind überhaupt passieren kann, muss ich heute doch sagen: Der da oben hat mein Schicksal mit Gnade und Fürsorge verwaltet."[2] Und er hoffe, mit seiner Geschichte anderen ein bisschen Lebensmut zu geben.[3]

Keine Angst, auch, wenn das Leben manchmal allen Grund dazu gibt. Es sind Geschichten wie die von Hape Kerkeling, die mir helfen, das Vermächtnis Jesu wieder in meinem Leben klingen zu lassen.

Wer betet, setzt der Angst etwas entgegen

Keine Angst! Seid getrost. Und noch etwas hängt Jesus seinem Abschiedsgruß an: Bittet, betet. Und Euch wird gegeben. Es ist kein Zufall, dass diese Abschiedsrede am heutigen Sonntag Rogate im Mittelpunkt steht. Rogate: Betet.

Für mich hängt diese Aufforderung eng mit dem Leitmotiv "Habt keine Angst" zusammen. Angst kann erstarren lassen, ins Passive drängen, das Herz kauert sich zusammen, verkrümmt in sich, geduckt vor dem, was geschieht. Bittet, betet, hinterlässt Jesus den Freunden. Wer betet, beginnt wieder zu handeln, setzt sich der Angst nicht mehr mit Haut und Haar aus. Wer betet, verleiht seiner Not eine Sprache, statt stumm vor ihr zu kapitulieren. Wer betet, nimmt sein Leben wieder in die Hand, tut etwas, auch wenn er weiß, dass das Gebet keine Wunscherfüllungsmaschine ist. Wer betet, verändert damit sich und andere. Auch im tiefsten Kummer, in der größten Angst und beim schmerzhaftesten Abschied.

Ich denke an die Nacht des 15. April, Notre-Dame steht in Flammen, die Bilder des brennenden Gotteshauses in Paris erschüttern weltweit. Die Kameras schwenken immer wieder auf die Menschen um die Kathedrale herum, wie sie sich auf den Brücken der Seine versammeln und unter den Bäumen der nahegelegenen Plätze, wie sie weinen – und: wie sie ein Kirchenlied nach dem anderen singen, unterbrochen von Gebeten. Manche fallen auf die Knie, als sie laut das französische "Gegrüßet seist du, Maria" beten. Die Menschen wissen: Sie können den brennenden Dachstuhl nicht löschen. Und dennoch können sie etwas tun: Sie können beten.

Beten, ohne schönzureden, was Angst macht in dieser Welt. Und das ist für unzählige Menschen mehr als eine brennende Kathedrale.

Ich denke an das Lied "La prière" / Das Gebet des französischen Dichters und Chansonniers Georges Brassens. "La prière" ist als ein Mariengebet aufgebaut, ein ganz spezielles "Gegrüßet seist du, Maria", "Je vous salue, Marie", so der Refrain. Brassens, der eine tiefgläubige italienische Mutter hatte, verstand sich als Atheist, in "La prière" schwingt der ihm eigene Sarkasmus mit. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb steht sein Lied für mich in der Tradition der Gebete und Psalmen, die herausrufen, was ist - Elend, Zweifel, Schmerz. Brassens tut es auf seine Weise, er nimmt dabei – ganz in katholischer Tradition – den Weg über Maria. Und so grüßt er in den ersten vier Strophen die Muttergottes im Namen des Jungen, der neben seiner Mutter stirbt, während im Hof die Kinder spielen. Er grüßt sie im Namen des unschuldig Bestraften, der erniedrigt wird, und im Namen des verletzten Vogels, der nicht versteht, warum sein Flügel blutet, während er zu Boden stürzt. Ein fast schon zynischer Gruß gen Himmel, der jedem billigen Trost und jeder Frömmelei Hohn spricht: Die Welt ist, wie sie ist. Und allzu oft scheint sie gottverlassen. In der letzten, der fünften Strophe des Liedes dann ein Umschwung: Auf einmal erklingt das Gebet im Namen derer, denen Hoffnungsvolles geschieht, im Namen der Geretteten: Im Namen der Mutter, die erfährt, dass ihr Sohn geheilt wurde, im Namen der zurückgewonnen Liebe, im Namen des Bettlers, der sein Geld wiederfindet. Zufall oder Bewahrung? Wer weiß das schon. Ich weiß nur, dass ich diese letzte Strophe nur deshalb hören kann, weil die anderen, die von nackter Angst, von Wut und Schmerz erzählen, zuvor erklungen sind.

Adieu - A-Dieu, zu Gott hin

Keine Angst. Ihr seid geborgen. Die Abschiedsworte Jesu an seine Freunde sind knapp  zweitausend Jahre alt und gelten doch auch heute. Sie bestehen über die Zeiten hinweg als der Ruf, immer wieder den aufrechten Gang zu üben, sich nicht in die Enge treiben zu lassen von dem, was ist oder kommen mag auf den Bahnsteigen des Lebens, an den Kranken- und Sterbebetten, nach schmerzhaften Abschieden.

Keine Angst, ihr seid geliebt. Man kann sie annehmen, diese Abschiedsworte Jesu. Und ihm vertrauen darin, dass mit seinem Abschied das Versprechen einhergeht, das der französische Abschiedsgruß Adieu verheißt – adieu: zu Gott hin, wo alle Wege wieder zusammengehen.

 

[1] Gabriele Hoffmann. Heinrich Böll. Bornheim-Merten. Lamuv Verlag, 1986, S. 284.

[2] H. Kerkeling, Der Junge muss an die frische Luft. Meine Kindheit und ich, 7. Auflage, München 2014, S. 309.