Der Krieg in der Pizzeria
Ein Abend letzte Woche. Ich sitze in einer Pizzeria. An zwei Nachbartischen sitzen sechs junge Männer, so Ende 20, mit zwei Kindern. Einer der Männer ist so etwas wie der Wortführer, edel gekleidet, schwarze Hose, elegante glänzende schwarze Schuhe, schicker beigefarbener Mantel; die anderen sind im Sportdress. Ihre Tische biegen sich vor Speisen: Pizza, Pasta, Oliven, Cola, Bier. Sie fallen auf, weil sie sich sehr laut unterhalten. Woher kommen sie, frage ich mich. Ihre Sprache klingt slawisch. Zwischenrein höre ich immer wieder das Wort Putin. Vor allem der schick gekleidete Wortführer nennt diesen Namen immer wieder.
Die beiden Kinder sagen auch was. Dann ändert sich sofort der Ton am Tisch. Der Wortführer, der wohl der Papa ist, wendet sich liebevoll den Kindern zu. Er schneidet die Pizza in kleine Stücke, er wärmt die Limo im Glas, und streicht seinen Söhnen liebevoll über den Kopf, bis diese strahlen. Dann wendet er sich wieder an seine Freunde, laut, ein bisschen halbstark und aufgedreht, und ich höre immer wieder auch das Wort "Putin".
Als sie das Lokal verlassen, stellt sich der Wortführer kurz zu mir an den Tisch und sagt in ganz gutem Deutsch: "Ich liebe Putin". Er hält eine Tageszeitung hoch mit dem Bild des russischen Präsidenten und nickt stolz. Ich bin nicht sicher, ob das ernst gemeint ist. Der Mann legt nach mit ernsthaftem Ton: "Ich bin ein großer Fan von ihm. Der hat einen goldenen Palast und goldene Toiletten. Und der macht‘s jetzt." Die andern nicken dazu. Die Kinder sind gelangweilt. "Wo kommen Sie her?" frage ich. "Aus Russland. Mal schauen, wie lang wir hier noch bleiben können". Die Kinder quengeln und die Gruppe geht und ich bleibe zurück.
Ich bleibe zurück, überrascht, erschrocken, ratlos. Für mich ist das irre, und ich hoffe immer noch ein kleines bisschen, dass die Begeisterung des jungen Mannes nicht ernst gemeint war. Vielleicht war es auch Verzweiflung, Sarkasmus, eine verkleidete Trauer. War´s aber wohl nicht. Egal, wie ernst das gemeint war: Jetzt ist Krieg – auch in meinem Leben. Der Krieg begegnet mir in dem kleinen 300-Seelen-Dorf, in dem meine Schwiegereltern leben. Die betagte Nachbarin wird von einer Dame aus Polen gepflegt, und die hat große Sorge und telefoniert viel: Ihre Familie lebt in der Nähe der Grenze von Polen zur Ukraine. Der Krieg ist jetzt mitten in meinem Alltag angekommen. Von einer Zeitenwende wird gesprochen. Und das Land, zu dem ich gehöre, schickt Waffen. Ich weiß nicht, was schlechter ist: Waffen schicken. Oder keine Waffen schicken. In jedem Fall: Waffen verteidigen Menschen und Waffen töten Menschen.
Mir gehen zur Zeit die Zeilen des Songs "Russians" von Sting durch den Kopf, aus der Zeit des Kalten Krieges. Bei Krieg gibt es kein MonopoI auf gesunden Menschenverstand, heißt es da. I hope the Russians love their children too. Ich hoffe, die Russen lieben ihre Kinder auch…
Mindestens 3 Ks… Alles ist gleichzeitig…
Jetzt ist Krieg. Manche sprechen sogar von einem Dritten Weltkrieg. Dabei ist jetzt auch noch so viel anderes parallel: Noch immer beherrscht die Pandemie unser Leben. Manchmal vergesse ich das, weil der Ausnahmezustand fast schon normal ist, Maske tragen, sich testen, Abstand halten, weniger Leute treffen. Und dann wird direkt vor meiner Haustür letzte Woche ein Container aufgestellt, ein neues Testzentrum. Und dann erkrankt wieder jemand in meiner Nähe, auch schwerer, und mir wird bewusst: Die Pandemie ist immer noch da. Und manchmal schäme ich mich auch. Ich verliere aus dem Blick, wie es Menschen in ärmeren gerade geht mit dem Virus …
Und dann ist jetzt noch … Klimawandel. Den vergesse ich auch manchmal, wenn mich nicht gerade wieder Orkanböen oder Berichte von Sturmfluten und schmelzenden Gletschern daran erinnern. Der Klimawandel fragt nicht, ob wir gerade Zeit haben, uns mit ihm zu beschäftigen, oder ob der Krieg oder Corona gerade wichtiger sind. Der Klimawandel schreitet fort … bis zur nächsten Katastrophe und darüber hinaus.
Krieg, Klimawandel, Corona – 3mal K wie Krise - all das ist jetzt. Ich bin Bürger dieser Welt und unserer Gesellschaft, will mir ein Urteil bilden, fühle mich mitverantwortlich für viele Dinge, die geschehen und möchte deshalb mehr wissen und tiefer verstehen. Und ehrlich gesagt: ich finde das ziemlich viel, was jetzt so los ist. Manchmal zu viel für mein persönliches Jetzt. Es kostet mich viel Energie, mit den täglichen bedrückenden Nachrichten fertig zu werden.
Man hat ja neben den großen Themen auch ein persönliches Leben, das fordert: Sich mit Veränderungen im Job arrangieren, in eine andere Wohnung umziehen. Ein Kind erwarten und großziehen. Sich verlieben, den Lebensmenschen finden, vielleicht heiraten. Trauern um jemanden, der wichtig und prägend war im eigenen Leben. Oder ein Lebensbund zerbricht nach vielen Jahren, Freundinnen verlieren den Draht zueinander. Nahe Freunde werden krank. Die eigenen Angehörigen werden älter, brauchen Hilfe und Pflege. Oder man ist selbst krank an Seele oder Leib oder beidem. All diese ganz persönlichen Themen brauchen Aufmerksamkeit, Zeit, Energie. Sie sind auch alle– jetzt. Ich muss mich meinen Lebensthemen, die jetzt grad dran sind, widmen, und haushalten mit meiner Zeit, mit meiner Energie.
Alles ist irgendwie gleichzeitig. Die Seele fühlt sich manchmal wie eine Getriebene an; getrieben von neuen Schreckensnachrichten. Krise im eigenen Leben. Die Seele sucht Frieden, Heilung, Hilfe…
Empfangt die Gnade Gottes nicht vergeblich. Denn Gott spricht (Jes 49,8): "Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen." Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Diese Worte des Apostels Paulus werden heute, am ersten Sonntag der Fasten- und Passionszeit, in vielen evangelischen Gottesdiensten gelesen. "Empfangt die Gnade Gottes nicht vergeblich" - das heißt doch, wenn ich Paulus hier richtig verstehe: Man kann an Gott vorbei leben. Man kann dabei sogar denken, man sei ein guter Christ, eine gläubige Frau, ein religiöser Mensch. Man kann Gott sehenden Auges übersehen, man kann Gott mit offenen Ohren überhören.
Ich komm da ins Nachdenken. Für mich spielt der Glaube, "Gott", seit ich ein Kind bin, eine riesengroße Rolle. Deshalb habe ich Theologie studiert und bin Pfarrer geworden. Ich glaube: Gott ist da in meinem Leben, mal stärker, mal schwächer, aber er ist da. Und dann höre ich von Paulus: Man kann an Gott vorbei leben, auch und vielleicht gerade als religiöser Mensch. Niemand ist davor geschützt, an Gott vorbei zu leben. Gott ist da. Aber ich bin vielleicht nicht bei Gott, in Gott, wie auch immer.
Zauberworte der Bibel
Ein Wort lässt mich in diesem Text besonders aufhorchen. Paulus verwendet es zweimal, und ich habe es heute auch ein schon paar Mal gesagt. Ich meine das kleine Wort "Jetzt". Jetzt ist die Zeit der Gnade, die willkommene Stunde, der Moment: Gott ist da. Jetzt ist der Tag des Heils. Diese Wörter "Jetzt" und "Heute" sind Zauberworte der Bibel. Sie machen mich aufmerksam. Als ob der Fluss der Zeit für einen kurzen Moment stehen bleibt. Rein denkerisch stimmt das natürlich nicht. Die Zeit läuft in jedem Moment weiter. Aber gefühlt bleibt die Zeit für einen Moment stehen und ich werde aufmerksam für das "Jetzt" und "Heute".
Ich merke das bei zwei Geschichten der Bibel ganz besonders.
Zum einen: Die Geschichte von der Geburt Jesu. Da sagt der Engel: "Heute ist euch der Heiland, der Christus geboren." Und wenn ich das "Heute" höre, fühlt sich das an wie: Der Engel meint mich, heute, 2000 Jahre später. Ich bin dabei, steh neben den Hirten und ihren Schafen und höre: "Dir ist heute der Heiland geboren".
Die andere Geschichte erzählt von den letzten Worten und der letzten Lebensstunde von Jesus. Er hängt am Kreuz, wartet auf den Tod, und neben ihm warten zwei andere Männer auf ihren Tod. In diesen letzten Lebensminuten überkommt einen dieser Männer eine riesengroße Verzweiflung, Scham, Wut, Trauer. Das Leben endet, und es fühlt sich an, als wäre alles sinnlos gewesen… Jetzt noch hier stundenlang Schmerzen aushalten und froh sein dürfen, wenn es endlich vorbei ist, dieses Scheiß-Leben. Das ist Verzweiflung pur. Mit letzter Kraft sagt er zu dem, der neben ihm hängt:
Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
Mich berührt diese Szene sehr. Der Mann hat absolut keine Perspektive mehr außer zu hoffen, dass es schnell geht, dass er endlich das Bewusstsein verliert. Und dann tut sich mit einem Wort etwas auf. "Heute". Auch wenn heute dein Todestag ist, auch wenn dein Leben gleich vorbei ist, auch wenn du dich schämst für deine Fehler und Verbrechen: Jetzt, heute, bist du bei mir. Heute – jetzt gleich - wirst du mit mir sein, im Paradies sein. Paradies ist ein anderes Wort für erfülltes Leben, Gott.
Ich denke an Menschen, die ich in ihren letzten Lebensstunden begleitet habe; ich sitze am Bett, die Kraft beim Händedruck wird weniger, von Stunde zu Stunde; der Atem wird flacher. Ich zeichne der Kranken ein Kreuz auf die Stirn, bete das Vaterunser und spreche die Worte Jesu dazu: Heute wirst du mit mir Paradies sein. Manchmal hat sich genau dann etwas entspannt.
Cesar Franck hat das Sterben von Jesus in wunderbare Klänge gefasst, vor allem dieses "Heute", dieses "Jetzt gleich". Hodie mecum eris, heute wirst du mit mir im Paradies sein…. Tauchen Sie mit mir in diese Musik ein, liebe Hörerinnen und Hörer. Ein bisschen dramatisch und sehr gefühlvoll macht sie etwas von der Hoffnung auf das Paradies hörbar.
Jetzt in der Passionszeit höre ich sie gerne, diese sogenannten "Sieben letzte Worte Jesu", die Cesar Franck und andere Komponisten vertont haben. In solcher Musik fühle ich mich ganz unmittelbar in die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu hineingezogen. Die Musik schafft es, dass ich mich so angesprochen fühle, als ob ich dabei bin.
Äußerlich sitze ich in der Kirchenbank oder im Konzert, ich sehe Musiker*innen, höre Instrumente und Singstimmen. Doch was ich äußerlich sehe und höre, verwandelt mich innerlich. Denn innerlich bin ich auf einmal wo anders, nämlich bei Jesus. Ich bin hier und bin gleichzeitig einer, der dabei ist in den letzten Lebenstagen und Stunden von Jesus; einer, der mit den Ohren und den Augen des Herzens Jesus von Nazareth sieht. Jetzt, für diesen Moment. Musik kann das: Ein Jetzt schaffen, das getrennte Zeiten und Orte verbindet.
Und auch der christliche Gottesdienst, die Liturgie kann das: Ein neues "Jetzt" schaffen, in dem Menschen verschiedener Orte und Zeiten einander gegenwärtig sind. Wir singen die alten Psalmen und werden gleichzeitig, mit denen, die sie vor uns gebetet und gesungen haben. Wir stimmen zusammen mit Engeln und himmlischen Mächten ein in das Heilig, Heilig, den großen Gesang vor dem Abendmahl. Und wir sind jetzt verbunden mit vielen, die vor uns und die anderswo gelebt und geglaubt haben.
Vor allem in den Orthodoxen Kirchen, also bei den Christen des Ostens kann ich das erleben: Dieses Eintauchen in ein anderes, ein göttliches Jetzt, mit Gesängen, Weihrauch, vielen Kerzen und Ikonen ….
Hagios ho theos, heilger Gott, erbarme dich, ein Klagegesang aus der orthodoxen Tradition. Ich liebe diese Gesänge. Ich kann dabei beten, meditieren, abschalten, mich auf Gott konzentrieren. Als ob mich diese Gesänge mich dem göttlichen Jetzt näher bringen.
Was jetzt in Kriegszeiten wichtig ist…
Aber Vorsicht: Das Eintauchen in ein anderes Jetzt ist auch gefährlich. Weil ich nämlich dann mein Hier und Jetzt aus dem Blick verliere. Als ob die Krisen dieser Welt nicht mehr da sind. Als ob es keinen Krieg gibt, kein Corona, keine Klimakrise, keine sonstigen Krisen. Als ob christlicher Glaube bedeutet: Einfach mal abschalten, in ein anderes Jetzt eintauchen.
Die meisten Menschen in der Ukraine und in Russland sind orthodoxe Christen. Die orthodoxe Kirche ist zum Teil gespalten. Die politischen Konflikte und der Krieg polarisieren auch die Kirchen. Was wirklich verstörend ist: wie eng der russische Präsident und die orthodoxe Kirche miteinander verbunden sind. Wie sehr der Patriarch, das ist das Oberhaupt der Orthodoxen in Russland, den Präsidenten lobt und unterstützt. Wladimir Putin weiß sich von seiner Kirche und ihren oberen Vertretern bestärkt. Ausgerechnet mit Unterstützung von Vertretern des Christentums wird Krieg geführt. Krieg ist Wahnsinn. Wer Angriffskriege christlich unterstützt, hat Grundlegendes von Jesus nicht verstanden. Das Jetzt Gottes kann ich nur suchen und feiern, wenn ich das Jetzt der Menschen im Blick behalte. Alles andere wäre ein "An-Gott-Vorbeileben", ein Verrat am Christentum – und da helfen weder Weihrauch noch schöne Gesänge. Wo Kirche Kriegstreiber unterstützt, verrät sie Jesus von Nazareth. Kirche muss um Frieden beten, Flüchtlinge aufnehmen, und Hilfe für Fliehende und Opfer in Russland und der Ukraine organisieren. Aber das ist nicht genug. Der Kirche darf es nicht reichen, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Die Kirche muss dem Rad selbst in die Speichen greifen. Dietrich Bonhoeffer hat das gesagt, ein evangelischer Theologe im Widerstand in der Zeit des Dritten Reiches.
Von einem Experten für Osteuropa habe ich gehört: Herr Putin leidet unter Wirklichkeitsentfremdung. Er lebt in einer anderen Welt von gestern. Für mich klingt das plausibel. Umso wichtiger ist, dass die Kirche dem widerspricht. Christlicher Glaube lebt im Hier und Jetzt und heute. Kirche muss im Jetzt sein. Und ich hoffe und erwarte, dass die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche widersprechen. Dass sie anders sprechen als Putin. Dass sie Krieg beim Namen nennen und verurteilen und zum Frieden aufrufen.
Liebe Hörerinnen und Hörer, Was wäre, wenn der Patriarch, also das Oberhaupt der Orthodoxen Christen in Russland sagen würde: Wladimir, Deine Politik bringe ich nicht mit Jesus von Nazareth zusammen. Was wäre, wenn der Patriarch das öffentlich sagen würde? Wir brauchen jetzt eine große Allianz aller Religionen in Europa, des Christentums, des Judentums, des Islams und anderer Religionen. Bitte, liebe Religionsführer, mahnen Sie öffentlich Frieden an.
Und dem bekanntesten Christen der Gegenwart rufe ich zu, auch wenn ich selbst evangelisch bin: Danke, lieber Papst Franziskus, dass Sie den russischen Botschafter im Vatikan besucht haben. Und bitte, lieber Papst Franziskus! Bitte seien Sie Friedensstifter, tun Sie das, was Ihnen möglich ist, um Menschen vor Krieg und Flucht zu retten. Fahren Sie persönlich hin, beten und sprechen Sie mit den Menschen in der Ukraine und auch in Russland. Sprechen Sie mit den orthodoxen Kirchenführern, was denn das heißt: Selig sind die Frieden stiften. Hat die Bergpredigt im angeblich christlichen Russland Bedeutung?
Man kann mit der Bergpredigt keine Politik machen, sagen manche. Aber ohne die Bergpredigt gibt es kein Christentum.
Ich denke noch einmal an den jungen Mann aus Russland, Putinverehrer und Vater zweier Buben. Ich möchte nicht, dass dieser Familienvater durch Krieg beschädigt wird an Leib und Seele. Und ich möchte nicht, dass die beiden Buben Kriegskinder werden, ihren Vater im Kampf verlieren und ein Leben lang die Bilder und Verluste in der Seele mit sich tragen. Und ich denke an die Liedzeile: Ich hoffe, sie lieben ihre Kinder auch.
In unserem evangelischen Gesangbuch finde ich eine Melodie aus Kiew. Damit kann man die Seligpreisungen, diese großen Leuchtworte von Jesus singen. Und wenn ich die Seligpreisungen höre oder mitsinge, dann verbinde ich mich jetzt mit Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, und mit dem Jetzt des Jesus von Nazareth. Und wir verbinden uns mit dem Jetzt der Menschen in der Ukraine und in Russland und hoffen, dass sie und viele andere bald getröstet werden.