In einem Interview mit dem Sonntagsblatt habe ich vergangene Woche gefordert, wir müssen raus aus der Logik der Eskalation. Das war vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine – der brutale Überfall auf ein souveränes Land hat die Situation massiv eskaliert. Menschen sterben, fliehen, werden traumatisiert. Es ist ganz klar: Dieser Wahnsinn muss beendet werden!
Aggressor Putin müssen Grenzen aufgezeigt werden
Kurzfristig muss alles getan werden, um die Sicherheit der Menschen in der Ukraine zu erhöhen. Dem Aggressor Putin muss klar werden, dass er mit diesem Vorgehen nicht zum Ziel kommt. Hier sind Instrumente der Sicherheitspolitik vonnöten, die wirksam sind, und zugleich die Situation nicht mehr als unbedingt nötig eskalieren.
Der ukrainische Präsident Selenskyij beeindruckt mich mit seinem Widerstandswillen einerseits, seinem deeskalierenden, auf ein friedliches Miteinander mit Russinnen und Russen gerichteten Tonfall andererseits. Das ist auch eine Ressource für eine Situation, in der möglicherweise Teile der Ukraine russisch besetzt sein werden und gewaltfreier Widerstand nötig wird.
Langfristige Perspektive nicht aus dem Blick verlieren
Bei alldem dürfen wir aber die langfristige Perspektive nicht aus dem Blick verlieren: Wie kann es gelingen, dass die Ukraine, ein Land mit einer spannungsgeladenen und phasenweise extrem gewaltsamen, aber doch langen und intensiven gemeinsamen Geschichte mit Russland in Frieden existieren kann? An diese Zeit, wenn Russland nicht mehr von einem Kriegsverbrecher regiert wird, muss auch jetzt schon gedacht werden.
Ich bin überzeugt, dass es hierfür die langfristige Perspektive von Grenzen braucht, die eine gute Nachbarschaft ermöglichen, sowohl zum Westen, der EU, als auch nach Osten hin, zu Russland. Dafür sind aus meiner Sicht weder eine NATO-, noch eine EU-Außengrenze wirklich hilfreich. Kurzfristig hilft weder die eine noch die andere Aussicht. Doch sich darauf festzulegen nimmt Lösungsmöglichkeiten vom Tisch.
Nun mag es von mancher Seite Einwände geben, nach dem Motto: Wie kann man von "guter Nachbarschaft" reden, wenn ein Land das andere brutal überfällt?
Man kann die politischen Fakten sehr unterschiedlich deuten. Hat die in Aussicht stehende NATO-Mitgliedschaft die Sicherheit der Ukraine befördert oder nicht? Von den einen ist zu hören, man hätte viel früher "die Realität" erkennen und dem skrupellosen Machtpolitiker Putin sowie der von jeher aggressiven russischen Politik harte Grenzen setzen müssen.
Auf der anderen Seite haben am 5. Dezember 2021 26 hochrangige ehemalige deutsche Diplomaten und Generäle für "nüchterne Realpolitik" plädiert und genau deshalb eine Konferenz zu einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung gefordert, mit einem Freeze bezüglich künftiger Mitgliedschaften der Ukraine in NATO, EU und OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).
Krieg vorbereiten – oder Frieden?
Weder die einen noch die anderen haben objektiv Recht, es handelt sich um ein "Sicherheitsdilemma". Handle ich nach der Maxime der alten Römer "Wenn du Frieden willst bereite den Krieg vor"? Ein solch sicherheitslogisches Vorgehen orientiert sich an Aufrüstung und Militärallianzen wie der NATO. Das kann die eigene Sicherheit erhöhen, birgt aber die Gefahr, dass sich andere von einem bedroht fühlen und entsprechend handeln.
Oder handle ich nach der friedenslogischen Maxime "Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor"? Ein solches Vorgehen deutet eine Bedrohung als Konflikt, den es zu lösen gilt; blickt vor allem auf die wechselseitigen Bedürfnisse und (Sicherheits-)Interessen, auch wenn sie einem selbst nur bedingt einleuchten, auf Dialog, Wandel durch Handel und durch Annäherung.
Das Wagnis Frieden
Ich tendiere zur letzten Auffassung, deshalb bin ich Mediator aus Leidenschaft. Aber ich bin mir bewusst, dass das immer ein Wagnis ist. Nicht umsonst hat Dietrich Bonhoeffer auf der Friedenskonferenz in Fanö 1934 gesagt:
"Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung."
Ich halte es für lohnend, dieses Wagnis einzugehen; jedenfalls strategisch, nicht-militärisch gesprochen: langfristig.
Als Theologe und Pfarrer vertraue ich darauf, dass Gott, der alle Menschen als Brüder und Schwestern erschaffen hat und in Jesus Christus gelitten hat, um die Spiralen der Gewalt zu durchbrechen, solche Wege segnet.
Gewalt ist kein Wettbewerb, sondern ein Problem
Aber es geht nicht nur um Glauben, sondern auch um harte Empirie. Selbst wenn man es sich in einer solch schrecklichen Situation nicht vorstellen kann: Es gibt einen langfristigen kulturellen Wandel, in dessen Zuge Gewalt immer weniger als ein Wettbewerb betrachtet wird, den es zu gewinnen gilt, sondern als ein Problem, das gelöst werden muss.
In den Neunzigern sprach man von einer "Friedensdividende", heute wird dies oft als naive Hoffnung bezeichnet. Doch an dieser Entwicklung ist wesentlich mehr dran, als wir oft sehen. Steven Pinker hat vorgerechnet, dass die Anzahl der Menschen, die pro Jahr in Kriegen umkommen, heute bei etwa einem Viertel gegenüber den Achtzigerjahren liegt, einem Sechstel gegenüber den frühen Siebzigerjahren und einem Sechzehntel gegenüber den frühen Fünfzigerjahren.
In den Tschetschenienkriegen, mit denen Putin politisch aufgestiegen ist, sind zehn Prozent (!) der Bevölkerung getötet worden, ohne dass die Weltgemeinschaft aufgeschrien hätte. Heute schaut die Welt hin, sieht seine Verbrechen und leidet darunter. Denn jeder einzelne Mensch, der dabei stirbt, ist einer zu viel.