"Wie geht es Ihnen?" "Wie geht es Dir?" Ist Ihnen diese Frage heute schon begegnet? Mich würde ja interessieren, was Sie geantwortet haben. Gut… alles gut… passt schon… geht so… Vielleicht auch dann, wenn Sie letzte Nacht schlecht geschlafen habe? Wie geht's? Gut! – So lala

Auf die Frage "Wie geht’s?" habe ich mal geantwortet: "Nicht gut." Interessant fand ich die Reaktion: Mein Gegenüber hat das gar nicht registriert, sondern einfach weitergeredet. Über das schlechte Wetter und so. Sozusagen gleich Kapitel 2 des Ratgebers für Smalltalk begonnen. Mich hat das irritiert. Denn die Frage "Wie geht's" ist eigentlich eine sehr persönliche und intime Frage. In der Begegnung zwischen zwei Menschen öffnet sie einen Raum für Begegnung. Und für Tiefe. Nur kommt es dazu meist gar nicht.

Als ich Student war, begegnete mir Heinrich, Redakteur bei einer Zeitung für religiöse Themen. Einige Zeit arbeite ich mit ihm zusammen. Heinrich ist sechzig, als ich ihn kennen lerne. Er sieht aber viel älter aus. Schütteres weißes Haar. Eine tiefe Narbe auf der Stirn. Heinrich hat im Zweiten Weltkrieg in Afrika gekämpft. Als Soldat war er dem legendären Generalmarschall Rommel unterstellt. Er wird gefangen genommen und überlebt den Krieg in einem Lager am Rande der Sahara. Weitere Schicksalsschläge bleiben nicht aus: Seine Frau und sein Sohn sterben.

Zum Journalismus kommt er, weil er darin die Möglichkeit sieht, Menschen aufzuklären, was Diktatur und Krieg für eine Spur der Zerstörung hinterlassen: Die eine liegt allen vor Augen. Die äußerlich sichtbare Verwüstung, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Die innere Verunsicherung mit einer daraus hervorgehenden Perspektivlosigkeit wird dagegen oft übersehen. Meist ist sie noch gravierender, denn sie raubt jede Zuversicht. Und kann sich zum Trauma entwickeln. Der Glaube – diese Überzeugung reift in Heinrich –, ist die einzige Kraft, die dem Menschen überhaupt Halt geben kann. So wird er Journalist – und legt neben der Politik den Schwerpunkt auf Religion, Kirche, Theologie.

Auf die Frage "Wie geht es Ihnen?" hat Heinrich eine Standardantwort: "Ich lebe." Diese Antwort hat mich beeindruckt und beschäftigt. Was heißt denn das: "Ich lebe"? Heinrich bleibt ein Skeptiker, sein Leben lang. Und obwohl Religion ihm so wichtig ist – mit über 90 resigniert er. Er hat zum Hoffen keine Kraft mehr. Bei meinem letzten Besuch bei ihm spüre ich das ganz deutlich. Er kapituliert, er, der als Junger so große Hoffnungen hatte – trotz all der schlimmen Erlebnisse. Er fragt sich: Kann sich der Mensch wirklich ändern? Die Welt sieht nicht danach aus. Und hat die Kirche noch die Kraft, Politik und Gesellschaft zu prägen? Punktuell vielleicht, wenn überhaupt. Und – diese Frage stand unausgesprochen im Raum: Welchen Sinn hatte dann eigentlich mein eigenes Leben?

Was ist gutes Leben?

"Ich lebe" – Heinrichs Antwort kommt mir bis heute seltsam vor, ungewöhnlich – aber ehrlich. Wie könnte man die "Wie geht es Ihnen?"-Frage sonst beantworten? Ich atme, ich esse, ich trinke, ich schlafe – das ist Leben. Natürlich ist es noch nicht "das" Leben. Aber was ist "gutes" Leben?

Für mich geht es beim "guten Leben" um Lebensqualität: Dass ich zufrieden bin und mich wohlfühle. Ich kann einen vollen Terminkalender haben, acht Stunden Arbeit täglich und mehr. Viele weitere Aktivitäten. Da noch eine Reise, da ein Ehrenamt, hier eine Ausstellung, ein Konzertbesuch, und und und. Bin ich zufrieden? Hat mein Leben Sinn? Verdient es das Prädikat "erfülltes Leben"?

"Ich lebe". Das kommt mir in den Sinn, als ich ein Email von einer Bekannten öffne. Meike ist gestorben, an Malaria, kurz vor ihrem 54. Geburtstag, drei Jahre jünger als. Ich bin entsetzt. Ich kenne sie seit einem Kirchentag vor etlichen Jahren. Meike arbeitete zuletzt für eine internationale Organisation als Entwicklungshelferin in Uganda. Frauen zu stärken, die unter schlimmsten Bedingungen leiden – unter Hunger, Ausbeutung, Krieg – das ist ihr Lebensthema gewesen. Dafür nahm sie viele Strapazen auf sich und ging große Risiken ein, wenn sie in Krisengebiete reiste. Jäh ging ihr Leben in Kenia zu Ende.

Wenn Menschen sterben, die gleich alt oder jünger sind als ich, mitten aus dem Leben gerissen werden, dann bringt mich das zum Nachdenken. Was ist denn das eigentlich – Leben? In der Bibel kommt der Begriff unzählige Male vor. Und zwar in unterschiedlichen Bedeutungen. Leben – das ist das Natürlichste und Selbstverständlichste. Ich bin da, so und so viele Jahre, Tage, Stunden, esse, trinke, arbeite, wiege so und so viele Kilo… Ich bin am Leben. Doch die Bibel weiß auch: Das ist nicht alles. Am Leben sein ist das eine. Aber bin ich schon im Leben? Hat mein Leben über die Quantität, über die Zahl meiner Jahre, meiner Arbeitsstunden und Herzschläge hinaus auch eine Qualität? Um diese Qualität des Lebens geht es Jesus in seinen Reden immer wieder, etwa im Johannesevangelium.

Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein und ausgehen und Weide finden. Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge.

Leben und volle Genüge – was heißt das? Im griechischen Urtext lese ich: Jesus spricht sogar von Überfluss, vom Leben im Überfluss.

Leben in Fülle – Leben im Mangel

Die Theologin Dorothee Sölle bringt mit ihrer Übersetzung des Bibelverses noch eine dritte Variante ins Spiel. Sie spricht von "Fülle" und wählt den Mittelweg zwischen volle Genüge und Überfluss. Sie hat sich einmal in einem Vortrag mit diesem Thema beschäftigt: "Wege zum Leben in seiner Fülle", lautet die Überschrift. "Ein zorniges Plädoyer gegen Geld und Gewalt" nennt sie ihre Ausführungen. Ich habe diesen Text – er stammt aus dem Jahr 1983 – jetzt wieder gelesen. Und der hat mich ziemlich aufgerüttelt. Wie könnte die Welt doch besser sein, denke ich. Tatsächlich hat sich eine Menge verändert, seit sie ihren Vortrag hielt. Die Teilung Deutschlands und Europas sowie die Apartheid in Südafrika nennt Sölle ausdrücklich. Seit 30 ist die Teilung Deutschlands Geschichte und seit 25 Jahren die Apartheid. Mehr Lebensfülle in dem biblischen Sinne gibt es trotzdem nicht.

"Für rund zwei Drittel der menschlichen Familie gibt es kein Leben in seiner Fülle‘, weil sie in Armut, nackter, ökonomisch bedingter Verarmung an der Grenze zum Tod leben. Sie haben Hunger, sie sind ohne Obdach, sie haben keine Schulen und keine Medizin für ihre Kinder, kein reines Wasser zu trinken, keine Arbeit… Der Kampf ums Überleben zerstört das erfüllte Leben, den Schalom Gottes, von dem die Bibel spricht… Armut zerstört dieses allen versprochene Leben."[i]

Die Armut ist nach wie vor ein Thema, das uns herausfordert. Dass wir über unseren eigenen Tellerrand schauen. Wir leben nicht allein. Wir sind Menschen, verbunden mit anderen Menschen, heute mehr denn je. Da kann es uns nicht kalt lassen, dass so vielen das Lebensnotwendige fehlt. Nicht nur in den Ländern der Dritten Welt.

Auch hier bei uns. In dieser Woche hat die Schule wieder begonnen. Wie Lara kommen immer mehr Kinder ohne Frühstück zum Unterricht. Ich kenne die Familie habe das Kind getauft. Die Eltern klagen, dass sich das Lara schwer konzentrieren kann. Wie denn auch – mit leerem Magen kann man nicht lernen. Marianne, eine Nachbarin hat sich mit der Familie angefreundet hilft hier mit kleinen Gesten.

Die äußere Armut ist das eine. Dorothee Sölle richtet ihren Blick noch auf eine andere Form von Armut:

"Das sinnlose Leben, von vielen sensiblen einzelnen seit dem Beginn der Industrialisierung wahrgenommen, ist heute Massenerfahrung der Menschen in der ersten Welt: Nichts freut, nichts schmerzt sie tief, die Beziehungen zu anderen sind oberflächlich, austauschbar, die Hoffnungen und Wünsche reichen gerade noch bis zur nächsten Urlaubsreise. Die Arbeit der meisten ist unbefriedigend, sinnlos und langweilig."[ii]

Es gibt eine Armut an Leben, die so aussieht, als ginge es dem Menschen gut, als hätte er alles, was er braucht. In Wirklichkeit ist da nichts hinter der Fassade – nur Leere. Psychische innere Leere. Äußere Armut und innere Leere sind nach Sölle die Kräfte, die unsere Welt zerstören. Ja, zerstören. Man muss es so sagen. Beschönigen hilft nichts. Was für ein Widerspruch, der äußere Reichtum und die innere Leere. Vergleichsweise geht es ja auch noch den Ärmsten bei uns besser als den Bedürftigen früherer Zeiten oder den Flüchtlingen in Lagern im Libanon. Beruhigend ist das freilich nicht.

Ein anderer Theologe, Heinz Zahrnt, fasst die Spannung zwischen äußerem Reichtum und innerer Leere für mich sehr treffend so in Worte:

"Wir haben viel gewonnen – aber was soll uns das Ganze? Wir besitzen vielerlei Güter – aber wozu sind sie gut? Wir haben viel Wissen – aber kaum noch Gewissheit. In dem Maße, in dem unser Wissen über einzelnes wächst, droht unser Verständnis der Welt im Ganzen abzunehmen. Einige verfügen über die nötigen Informationen – allen zusammen fehlt es an Orientierung."[iii]

Die Menge an Gütern und vor allem an Nachrichten nimmt zu. Schon lange komme ich gar nicht mehr nach, alles zu lesen, was mich interessiert. Bücher und Zeitungsausschnitte stapeln sich. Und wenn ich dann mal wieder etwas von dem Haufen abgebaut habe, frage ich mich: Was bedeutet das, für mich, für unsere Welt? Vor allem wächst in mir das Gefühl, dass ich selbst gar nichts machen kann. Wer bin ich im Getriebe dieser Welt? Wozu bin ich da? Das sind Fragen, die sich schon Generationen vor mir stellten, die ich mir immer wieder stelle und die sich auch die nächste Generation stellt.

Aber es reicht nicht aus, die Fragen nur zu stellen. Es braucht auch Antworten, Lösungen, oder wenigstens Teillösungen. Als Pfarrer leite ich die Evangelische Akademie Tutzing. Wir wollen dabei helfen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Selber denken – und sich nicht das Denken von anderen abnehmen lassen. Orientierung gewinnen im Diskurs mit anderen – Vergewisserung, was ich tun soll und dann auch tun muss.

Leben in Verantwortung

Ein Lied begleitet mich schon lange beim Nachdenken über die Frage, was ich tun kann: Es heißt: "Hilf, Herr meines Lebens, dass ich nicht vergebens, hier auf Erden bin."

Dass ich nicht vergebens hier auf Erden bin – da ist sie wieder, die Gefahr, dass alles vergebens ist, dass das Leben leer und sinnlos ist. Und so spricht mir "Hilf, Herr meines Lebens" aus dem Herzen, denn das möchte ich auch: Die eigene Lebensaufgabe entdecken und nicht vergebens hier auf Erden sein. Dem Nächsten nicht schaden. Nicht als Egoist mit Scheuklappen leben, sondern dort helfen, wo ich es kann. Wie geht das konkret, liebe Hörerinnen und Hörer?

Wenn Menschen sich gegenseitig helfen und füreinander da sind, entsteht nicht automatisch ein Leben in Fülle. Aber es reicht dann für mehr. Wenn es genug ist, ist es nicht weit zur "vollen Genüge", wie Martin Luther im Johannesevangelium übersetzt. Das Menschenmögliche tun – und hoffen ohne Illusion. Die Welt zu einem besseren Ort machen. Meike, die Frauen in Afrika unterstütze, gehört für mich zu jenen, die genau das getan haben. "Man kann nicht nichts machen", konterte sie in unseren Gesprächen immer wieder die Sorge vor der schieren Aussichtslosigkeit mancher Hilfsprojekte. Für andere da zu sein – das war für sie der Sinn ihres Lebens.

Johannes stellt in seinem Evangelium Jesus einem Dieb gegenüber. Der Dieb raubt anderen, was sie zum Leben nötig haben. Jesus hingegen bringt das Leben. Was das genau heißt, beschreibt der Evangelist in einem Bild: Jesus – der gute Hirte. Vor meinem inneren Auge entstehen die Bilder, die Psalm 23, der Psalm vom guten Hirten, wachruft: kein Mangel, grüne Auen, frisches Wasser, eine gestärkte Seele, ein Weg auf gerader Straße. Hier ist es, das gute Leben. Und es bleibt auch dann gut, wenn es durchs finstere Tal geht. Weil der gute Hirte da ist.

Ich übersetze das für mich so: Einer, der sich kümmert. Verantwortung übernimmt. Wer die Haltung Jesu einnimmt, der sorgt dafür, dass die Lebensqualität steigt. Die eigene – und die meiner Mitmenschen.

Die Frage, was "erfülltes Leben" für mich persönlich bedeutet, lässt mich nicht los. Und ich merke, es gibt nicht die eine, einzige Antwort. Es hängt von der Situation ab. Beim Spazierengehen ist es so, wie es der Lyrikers Peter T. Schulz beschreibt: "Ich schaue aus dem Fenster, draußen ist noch da. Ich summe eine Melodie und fühl‘ mich wunderbar."[iv] An nichts denken – schon gar nicht Vergangenes nacharbeiten und Künftiges planen. Stehenbleiben und den Augenblick spüren. An meinem Lieblingsurlaubsort – in Oberstdorf im Allgäu – gibt es eine Stelle mit einem wunderbaren Blick ins Tal und auf die Berge. Ob die Wiesen blühen oder Heu gemacht wird – ich kann mich nicht sattsehen. Alles andere, was mir gerade durch den Kopf geht, ist dann nicht mehr wichtig.

Das Leben, von dem Jesus spricht

Erfülltes Leben – das ist für mich manchmal ein Zustand, ein Moment: der Flow, die intensive Arbeit am Stück, und nichts kann mich ablenken. Wenn ich dann irgendwann fertig bin – mit Schreiben oder mit Aufräumen – und plötzlich ein gutes Gefühl mich regelrecht durchströmt. Da bin ich in meinem Innersten ergriffen.

Viel öfter ist es aber eine Situation, ein Erlebnis. Zum Beispiel, wenn ich wieder mal einige Weinbergschnecken sehe, die morgens, wenn es noch feucht ist, oder am Abend über den Kies vor der Garage wandern. Die Farbe ihrer Häuser verschwimmt oft mit dem Boden. Ich kann sie meist nur erkennen, wenn ich stehen bleibe. Wenn ich die Tiere so ansehe, das sind eindrucksvolle Geschöpfe der Natur. Und ja: Auch diese Häuserschnecken will ich schützen. Also sammle ich sie ein und setze sie in der Hecke ab. Meine Begeisterung ist auch geweckt, wenn Cathy, die Nachbarskatze, über den Rasen springt, als sei dieser ein riesiges Trampolin. Diese grazilen Bewegungen – und die vermeintliche Freude, die ich in der Katze zu erkennen glaube, wenn sie mich sieht und losrennt. Na ja, was sich Tierfreunde so alles denken…

Erfülltes Leben – das kann eine Whatsapp von meinen Patenkindern sein, die mir sagt: Hey, wir denken an dich. Du bist uns wichtig. Oder auch mal einfach ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte, die natürlich niemand besser macht als meine Mutter. Einfach mal dasitzen. Eine Tasse Kaffee, ein Stück Torte, das Leben gut sein lassen. Spüren, dass da eine Qualität ist, die aus der Tiefe kommt und in die Tiefe führt.

Seit einiger Zeit gibt es einen Trend zu "mehr Achtsamkeit". Einfach auf den Moment aufmerksam sein. Innehalten. Wahrnehmen, was gerade ist. Mich überzeugt das.

Erfülltes Leben – das gibt es nicht für mich allein, sondern nur in der Beziehung zu anderen. Erfülltes Leben, das sind diese Momente, in denen diese Qualität des Lebens aufblitzt. Große Momente des Lebens. Aber eben auch ganz alltägliche. Momente, in denen ich spüre: mein Leben ist erfüllt, mein Leben hat Sinn. Weil es vom Leben dessen durchdrungen ist, den wir Gott nennen. Das ist erfülltes Leben. Momente, in denen ich gewiss bin: Dass ich gehalten und getragen bin. Dass mein Leben nicht bedeutungslos ist. Dass ich hineingenommen bin in etwas Größeres, in das ganz Große. Das erfüllte Leben, das Jesus verspricht und bringt, ist das Leben, in dem etwas von Gott aufscheint, hier und jetzt und mittendrin in allem Stress, in allen Fragen, in meiner Ratlosigkeit, in meinem Nachdenken. Mittendrin blitzt es auf: Gott ist gegenwärtig. Darum geht’s, oder?

 

[ii] ebd.

[iii] Heinz Zahrnt, Glauben unter leerem Himmel. Ein Lebensbuch, München 2000, S. 27.

[iv] Der Olle Hansen und seine Stimmungen. Bilder und Gedichte aus Hansens Haus, Köln 1977, S. 13.

 

Evangelische Morgenfeier vom 15. September 2019 mit Pfarrer Udo Hahn, Tutzing, Thema: Wege zum Leben in seiner Fülle (Johannes 10,10)