Grenzüberschreitungen

Liebe Leserinnen und Leser, 2015: Ein Jahr, an das ich mich gut erinnere. Menschen auf der Flucht strömen nach Europa. Was heißt strömen. Sie wandern sich die Füße blasig, werden an Küsten angespült, werden von Schleusern auf Boote und in LKWs geladen. Und oft werden sie auch belogen und betrogen. Sie kommen aus Syrien vor allem. Auch aus Afghanistan. Und es sind viele. So viele, dass das Thema eine Zeit lang die Gesellschaft beherrscht. Manche sagen, es seien zu viele.

 Jetzt ist 2022. Wieder kommen Geflüchtete. Millionen sind auf der Flucht aus der Ukraine, zehntausende schon in Bayern angekommen. Die Grenzen sind diesmal offen, in Deutschland, in ganz Europa. Ich bin glücklich und dankbar darüber. 
Und ich brauche solche hellen Gefühle, mitten in den ganzen anderen, dunklen Gefühlen. Der Krieg macht mir Angst. Ich bin wütend über den Diktator am Ende seines langen Konferenztisches, mit seinen Befehlen an diesen und jenen. Und ich trauere mit den Menschen in der Ukraine. Ihr Land und ihre Seelen sind überrollt worden. Alle ihre Grenzen werden missachtet. Ihre Schranken und Zäune und ihre internationalen Rechte. Aber auch die unsichtbaren Grenzen. Solche Grenzen, die nur erkennbar werden, wenn uns jemand zu nahe kommt. Das macht mich fast noch mehr wütend und traurig. 

Wir stufen normalerweise fein ab, wie nah wir einen Menschen an uns heranlassen. Kolleginnen und Kollegen treffe ich in den Berufsräumen: Büro, Fabrik, Konferenzzimmer. Nur, wenn ich das will, definiere ich die Grenze neu. Dann lade ich jemanden zu mir nachhause ein. Öffne ihm die Tür. Bitte ihn, sich an den gedeckten Esstisch zu setzen. Zeige ihm auch die Wohnung. Aber ich erwarte unausgesprochen, dass er an der Tür zum Schlafzimmer höflich stehen bleibt. Hier ist nicht sein Bereich. Sondern meine Privatsphäre. 

Und so geht es weiter. Auch ich selbst als Körper habe Grenzen. Meine Haut, meine Haare begrenzen mich. Ich schütze mich durch Abstand zum anderen. Durch Gesten. Durch Kleidung. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben es nicht mehr in der Hand, wie nah man ihnen kommt. All die feinen Abstufungen von Grenzen gelten für sie scheinbar nicht mehr. Sie wahren zwar ihre äußeren und inneren Grenzen, wo immer möglich. Dennoch rückt ihnen ihr Feind bedrohlich auf die Pelle – die Pelle ist ja die Haut. Viel zu nah! 

Ich habe in meiner Lebenszeit keinen Krieg im eigenen Land erleben müssen. Aber Grenzüberschreitungen sehr wohl. So wie Sie vermutlich auch, liebe Leserinnen und Leser.  Ich erinnere mich, wie sich das unter meiner Pelle angefühlt hat. Wie gelähmt vor Angst. Und zugleich bereit, um mich zu schlagen vor Zorn. Manches hat so wehgetan, dass ich jahrelang dachte, mein Leben würde nicht wieder gut werden. Mit am schlimmsten ist das Gefühl, doch vielleicht selbst schuld daran zu sein. Daran erinnern mich die Millionen Menschen, die gerade Grenzüberschreitung erleben.

 Ich leih mir Worte und Musik von Porter’s Gate, einem christlichen Musikprojekt aus Virginia. "Illuminate the shadows": Bring Licht in die Schatten hinein, oh Gott – unsere Hilfe in der Zeit der Not! Schmeiß den bösen Machthaber von seinem Thron! 
Ich hoffe darauf, dass Seelen wieder heilen können – auch, weil ich es selbst erlebt habe.

Und weil mich in dieser Hoffnung Geschichten der Bibel stärken, erzähle ich Ihnen heute von Elia. Ein Prophet, dessen Geschichte im Alten Testament aufgeschrieben ist. Elia kommt aus einer Schlacht. Aus einem Krieg, den er mit Worten und Feuer geführt hat. Und auch mit dem Schwert. Elia: Ein Prophet, der sich aufgerieben hat, der viele Menschen getötet hat, die Baals-Propheten. Aus seiner Sicht hat er das alles für Gott getan. Für die richtigen Werte. Und nun – hat er selbst Leute gegen sich, die ihn töten wollen. Verständlicherweise. König Ahab und Königin Isebel gehören zu ihnen, sie trachten ihm nach dem Leben ... 

Unter den Ginsterstrauch fliehen

Elia fürchtete sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort. Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Ginster und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter.

Ich stelle mir Elia als stattliche Erscheinung vor. Keiner, der schnell einknickt. Dieser Prophet sorgt für Eindruck. Und jetzt: ein Flüchtling unter einem Ginsterbusch. Im einzigen bisschen Schatten, mitten in der Wüste. Hier kauert er. Vielleicht zusammengerollt wie ein Baby, weil der Schmerz so groß ist. Wie ein Kind unter der Bettdecke. Ich kenne meine Orte, an die ich mich flüchten kann, wenn die Gefühle zu groß werden – geschützte Orte. Am Boden, in einer Zimmerecke. Wie ein Elia unter dem Ginster. Wie Mütter in den U-Bahn-Schächten in Kiew, auf einem kleinen Teppich. Wie Menschen in dicken Jacken auf einem Feldbett, ein Zelt von Diakonie Katastrophenhilfe ist ihr Ginsterstrauch. Und immer kommen die Momente, in denen sie aufgeben wollen. 

Elia will am liebsten nicht mehr da sein. Seine Begründung dafür klingt für mich eigentümlich: "Ich bin nicht besser als meine Väter". Wozu der Vergleich? Warum besser als die Väter oder Mütter? 

Eine Psychotherapeutin hat mir erklärt: Schmerz und Schuldgefühle und Angst können weitergegeben werden. Von Generation zu Generation. Besonders in Deutschland ist das in den letzten Jahrzehnten erforscht worden. Die deutsche Diktatur und der zweite Weltkrieg finden sich bis heute in den Seelen vieler Menschen. Psychische Wunden und Narben, auch in denen, die den Krieg nie selbst erlebt haben. Sie fühlen Schuld und Wut, die überhaupt nicht zu ihrem Leben gehören. Ihre Gefühle sind verwirrend. Weil es nicht ihre sind, sondern – die ihrer Eltern und Großeltern. Man nennt sie "Kriegskinder" und "Kriegsenkel" (Sabine Bode). Ein altes Sprichwort aus der Bibel sagt es so "Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf." (Jeremia 31,29)

Und dann leuchtet es mir ein, was Elia zusammengekauert unter dem Ginster hervorpresst: "Ich bin nicht besser als meine Väter." Und wieder denke ich an die Frauen und Männer, die gerade in der Republik Moldau und in Rumänien und wo auch immer Schutz suchen. Denn die Ukraine war einer der Hauptschauplätze des zweiten Weltkriegs. Und die Wunden von heute lassen Wunden von früher neu schmerzen. Wunden, die vielleicht nie richtig heilen konnten und weitergewandert sind, durch Familien und Generationen. 

Sich therapieren lassen

Die Wunden der Seele schmerzen. Elia sitzt unter dem Ginsterstrauch. Niedergedrückt. Ja, er klingt wie ein Mensch in einer Depression. Nicht da sein wollen. Fühlen wollen und doch nicht fühlen wollen.
Und dann …

Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginster. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.

Elia erlebt eine Therapie. Zuerst darf er schlafen.  Und dann: essen. Einfach Brot essen. Manch eine isst in ihrem Leid permanent, Gummibärchen und Pommes, eine andere trinkt, mehr als ihr bekommt, Bier und Wein und wenn‘s schlimm wird auch Härteres – und andere vergessen das Essen und Trinken ganz. Elia isst einfach Brot. Und dann schläft er wieder.

In mir klingen Gute-Nacht-Lieder, wenn ich daran denke. Solche, die ich meinen Kindern vorgesungen hab, als sie klein waren. Oder die mir vorgesungen wurden. Schlaflieder erkennet man manchmal sogar ohne Worte. Sie haben sanfte, tröstliche Melodien …

 Schlafen und Essen und wieder Schlafen. Die Seele braucht einen regelmäßigen Rhythmus, wenn sie aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Und: Bewegung. Vielen, die mit depressiven Phasen zu kämpfen haben, hilft es, sich zu bewegen: Spazieren gehen, Rad fahren, schwimmen, oder einfach mit dem Rollator eine kleine Runde im Garten drehen.

Auch Elia wird losgeschickt. "Steh auf! Du hast einen weiten Weg vor dir". Vierzig Tage und Nächte geht Elia. Ein Weg, der ihn verändert. Therapie braucht Zeit und Geduld und Durchhalten. Am Ende kommt Elia zu seinem Ziel. Wobei er sich das Ziel gar nicht ausgesucht hat, mindestens wird das nicht erzählt. Es ist eher, als ob das Ziel ihn zieht. Der Berg Horeb – der Ort, wo Gott Mose die Gesetze gegeben hat. Elia wandert also zurück zum Ursprung, zum Ursprung der Gottesbeziehung. Hier haben seine Vorfahren Gott erfahren und er erhofft sich das auch .

 Ich kenne das aus meinem eigenen Leben: In Notzeiten zieht es mich wieder zum Ursprung. Manchmal ist das die Familie, in der ich groß geworden bin. Dann wieder Orte, wo mir der Glaube wichtig geworden ist – meine Kindheitskirche in Hamburg oder der Schwanberg in Unterfranken. 

Am inneren Horeb ankommen

Immer häufiger finde ich diesen Ort noch wo ganz anders: In mir. Ich habe meinen inneren Berg Horeb entdeckt. Und ich glaube, jede und jeder kann ihn bei sich entdecken. Einen inneren unsichtbaren Ort. Ein geheimer, gut beschützter Raum. Ein Raum, wo nur Gott ist und ich. Sonst hat niemand Zugang. Keine Grenzüberschreitung kann ihn einnehmen. Ich brauche Stille, um dort anzukommen und kann nicht "machen", dass es geschieht. Es ist eher so, dass ich übe alles andere loszulassen. Gott wird mich schon finden. Er ist ja schon immer da, an meinem inneren Horeb. Und Gott zieht mich.

Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des Herrn kam zu ihm: Was machst du hier, Elia? Er sprach: Ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth; denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.

Elia will jetzt nicht mehr sterben. Stattdessen kann er beschreiben, was war. Er kann seine Angst benennen und seine Einsamkeit – und auch, so glaube ich, seine Schuld. Vorhin habe ich gesagt, dass mich Geschichten der Bibel stärken. Es gibt freilich auch andere Erzählungen, die mich eher zum Zweifeln bringen. Dazu gehört die Vorgeschichte von Elia. Der Krieg, aus dem er kommt, die ganze Sache bevor er unter dem Ginsterbusch kauert. Und hier ist die Geschichte ganz anders als das, was die Ukrainerinnen und Ukrainer erleben. Hier ist es ganz Elias Geschichte. 

Er hat sich einen Kampf geliefert – im Namen Gottes. Einen Kampf mit der Konkurrenzgottheit im Landstrich - Baal. Sein Vorschlag: Er als Prophet Gottes und die Priester des Baal sollten abwechselnd ihre Götter anrufen. Vor ihnen zwei Altäre mit Opfergaben darauf. Und welcher Gott Feuer vom Himmel schicken würde, der sollte der wahre Gott sein.

Eine religiöse Wette. Und die Bibel erzählt, dass Elia gewinnt. Feuer fällt vom Himmel. Und dann erfasst Elia eine Art Rausch. Nachdem sein Altar im Feuer aufgegangen ist, greift er zum Schwert und tötet die Baalspriester. Ich stelle ihn mir mit irrem Blick vor und mit wehenden Haaren. Und im selben Moment ploppt eine ganze Collage an Bildern in mir auf: Unnachgiebige evangelikale Prediger in den USA, wie sie die Todesstrafe verteidigen. Talibankämpfer. Mit Maschinenpistolen in der Hand und Koranversen im Mund. Ein buddhistischer Mönch als Hassprediger in Myanmar. Lauter Bilder davon, wie Religion und Gewalt sich entsetzlich verbinden … 

Und was soll eigentlich dieses Feuer vom Himmel! Ist unser Gott einer, der Feuer schickt, um seine Feinde zu vernichten? Ich bete darum, dass Gott Frieden herabregnen lässt! Dass die Panzer stehen bleiben, die russischen Soldaten abziehen - dass die Raketen sich ins Schwarze Meer verirren!

Ich bin überzeugt: Elia bricht nicht nur zusammen, weil König Ahab ihn verfolgt. Er bricht zusammen, weil er seine Schuld fühlt. Und ich stimme in den Ruf von Porter’s Gate ein: Wo immer Religion missbraucht wird, wo immer im Namen Gottes Gewalt geübt und Hass gesät wurde - wo immer ich Gott zur Manipulation genutzt haben sollte … Bring Licht in die Schatten! 

Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.

Am Horeb entdeckt Elia etwas, das er noch nicht kannte. Gott ist nicht in der Macht. Nicht im Lärm. Nicht im Feuer. Und Gott ist auch nicht auf der Seite dessen, der die meiste Macht hat oder den meisten Lärm macht. Er ist nicht auf der Seite derjenigen, die am meisten Geschosse abfeuern können. 

Im stillen, sanften Sausen ist Gott. Ich stelle mir vor, wie sich das anfühlt für den Gotteskrieger. Gewaltiger als Gewalt ist das. Eine neue Ahnung von Gott umspielt seine Haut. Lässt ihn seine Grenzen spüren. Eine spirituelle Therapie für Elia. Still und sanft verändert es ihn. Gott ist ganz anders. Und Du, Mensch, hab Mut, deine Grenzen zu fühlen, zu ihnen zu stehen, … Und überschreite nicht die Grenzen anderer.

Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten immer mehr Menschen aus der Ukraine begegnen. Sie werden mit uns in derselben Straßenbahn sitzen oder in einem Amt neben uns anstehen. Ihre Kinder werden mit unseren in dieselben Klassen gehen, vielleicht werde Student:innen hier ihr Studium fortsetzen. Sie werden Schlaf brauchen. Und Brot. Und wieder Schlaf. Es wird Bewegung brauchen, Spaziergänge. Einen Rhythmus, der Sicherheit gibt. Und wieder Brot. Vielleicht wird zu dem Brot auch die Erfahrung gehören, dass ihnen die Grenzen geöffnet wurden – die Grenzen der Deutschen, die doch damals im 2. Weltkrieg auch die Grenzen der Ukraine überschritten hatten. Haben wir das Säuseln Gottes, den friedlichen Weg Gottes, gehört?

Und möglicherweise müssen wir in Deutschland und Europa in den kommenden Monaten und Jahren ganz besonders darauf hören. Dann, wenn nach der ersten Hilfewelle und Solidarität auch Probleme aufkommen werden. Probleme, die ganz normal sind in so einer Veränderung – aber die Menschen Angst machen können, weil sie auch uns an Grenzen bringen kann…
In allem wird es Zeit brauchen – und die wichtigste Zeit wird wohl erst dann anbrechen, wenn der Krieg ein Ende gefunden hat. Zeit für den Weg zum "Berg Gottes", für den Weg nach innen. Ich glaube fest daran, dass auch die furchtbaren Grenzüberschreitungen durch die russische Invasion den inneren Horeb nicht zerstören können. Und ich glaube fest, dass dort sanftes, liebendes Windsausen ist. Klang Gottes, der vorsichtig und kraftvoll und langsam die Seele heilt. 

Valentin Silvestrov, ein ukrainischer Komponist, hat Friedenshymnen komponiert. Hymnen ohne große Worte. Für mich klingt auch in ihnen dieses göttliche Säuseln … 

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.