Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,

Vor zwei Tagen, am 20. Juni war Weltflüchtlingstag. Den haben die Vereinten Nationen im Jahr 2001 ausgerufen. Aber Flucht und Flüchtlinge gibt es seit Menschengedenken. Das Buch der Bibel ist ein Buch von Fluchtgeschichten: Israel flieht aus Ägypten, weil sie dort als Sklaven ausgebeutet werden. Jakob und seine Söhne müssen wegen einer Hungersnot ihr Land verlassen. Maria und Josef fliehen mit dem neugeborenen Jesus vor König Herodes, der Jesus umbringen will. Flucht ist alltäglich. Immer schon. Die Frage ist, ob Geflüchtete auch Zuflucht finden. Eines der ältesten Gebote der Bibel ruft genau dazu auf: "Einen Fremden sollst du nicht quälen. Ihr wisst ja selbst, wie dem Fremden zumute ist. Denn ihr seid in Ägypten Fremde gewesen."

Kirchenasyl

Heute möchte ich Ihnen von Zara und Ahmed erzählen. Und von Sulaiman und seinem Sohn Mohammed. Mit allen habe ich ein paar Monate zusammengewohnt. Und noch einer ganzen Reihe mehr Menschen.

Sie alle mussten aus ihrem Land fliehen und haben bei uns im Kirchenasyl gelebt. Das haben sie gemeinsam. Aber ich könnte weit mehr Unterschiede zwischen allen aufzählen: die eine schläft gerne lang und kommt immer nur fast pünktlich zum Deutschunterricht. Der andere lässt fast immer die Milch überkochen und den schmutzigen Topf auf dem Herd stehen. Die eine versucht, alles auf Deutsch zu sagen, auch wenn wir uns auf Englisch besser verstehen, der andere lernt bei uns das erste Mal schreiben. Seit ich hier in der Gemeinde Pfarrerin bin, habe ich über 50 Menschen ins Kirchenasyl aufgenommen. Manche blieben nur ein paar Wochen, andere mehrere Monate. Sie wohnen in den Räumen neben meinem Büro, das waren mal ein Besprechungszimmer und ein weiteres Büro. Unsere ehemalige Teeküche haben wir zu einer Einbauküche umbauen lassen und jetzt ziehen täglich Düfte der syrischen, afghanischen oder westafrikanischen Küche durch unser Treppenhaus. Wenn ich das Haus verlasse, treffe ich oft einen unserer Gäste unten, wir plaudern kurz. Und einmal in der Woche essen wir alle zusammen. Dann kochen wir europäische Gerichte und versuchen, Deutsch miteinander zu reden. Wir erzählen von unserem Wochenende und was heute im Unterricht gelernt wurde. Denn das gehört bei uns dazu: Vier mal in der Woche unterrichten Ehrenamtliche Deutsch. Und es ist erstaunlich, was für Fortschritte unsere Gäste immer wieder machen.

Für mich ist es inzwischen Alltag, mit Menschen zusammen zu leben, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, es gehört zum normalen Leben dazu. Doch die Menschen und ihre Geschichten – die werden nie Normalität für mich sein, denn jede einzelne Geschichte und jeder Mensch dahinter ist so einzigartig. Und immer wieder erschüttern mich ihre Fluchtgeschichten. Jede einzelne – so unterschiedlich sie sind. Und manches kehrt immer wieder.

Am Weltflüchtlingstag veröffentlichen die Vereinten Nationen jährlich den aktuellen Bericht des Weltflüchtlingshilfswerkes, kurz UNHCR. 122 Millionen Menschen sind zurzeit gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. 38 Millionen wurden als Geflüchtete gezählt. Diese Zahlen rauschen an mir vorbei. Ich kann sie mir nicht im Ansatz vorstellen. 38 Millionen – das sind dreimal so viele Menschen wie gerade in Bayern leben. Sie suchen Schutz vor Verfolgung. Sie möchten selbstbestimmt leben, und dass ihre Menschenwürde geachtet wird.

Sie haben in ihren Heimatländern furchtbare Erfahrungen gemacht und kommen oft traumatisiert hier an. Dabei brauchen sie Begleitung, jemand, der ihnen zuhört und am Anfang an die Hand nimmt im neuen Land. Dieser immensen Zahl von 38 Millionen möchte ich heute ein Gesicht geben. Ich möchte Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, heute an einer Geschichte teilhaben lassen. Denn hinter jeder Zahl steht ein Mensch.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat vor ein paar Wochen eine biblisch-theologische Grundlegung zum Kirchenasyl veröffentlicht. Darin heißt es:

Es muss einen Ort geben, an dem Menschen Zuflucht finden, wenn ihr Leben in Gefahr ist. Wenn sie keinen Ausweg mehr sehen, wenn sie nirgends mehr hinkönnen. Und es muss Menschen geben, die dann ihre Tür öffnen, die Schwachen helfen und Schutzsuchenden, so gut es geht, zur Seite stehen. Unsere Kirchen sind solche Zufluchtsorte. Sie werden es auch bleiben.

Diejenigen, die in ihrer Gemeinde ein Kirchenasyl gewähren, setzen damit eine jahrhundertealte Praxis fort und verstehen dies als ihre christliche Pflicht. Sie übernehmen Verantwortung, damit Menschen zu ihrem Recht kommen. Eine Gemeinde nimmt sich dabei kein Sonderrecht heraus; sie schärft vielmehr den Blick für das, was ein Gemeinwesen braucht und wodurch es gestärkt wird: Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit.[1]

Zaras Geschichte

Zara hat bei uns im Kirchenasyl gelebt. Sie ist aus Nigeria geflohen, weil sie dort ihren Onkel heiraten sollte, der 23 Jahre älter als sie ist. Schon mehrfach wurde sie von ihm vergewaltigt. Als Zara schwanger wurde, hat er die Hochzeit angekündigt, damit er nicht angezeigt werden kann. Für Zara war es die Hölle. Seelisch und körperlich. Denn was noch dazu kommt: Zara wurde als Kind genitalverstümmelt, in so hohem Grad, dass sie immer beim Sex Schmerzen hat. Und eine Geburt ist für sie ein besonderes Risiko. Um dieser Zwangsehe zu entgehen, ist sie geflohen. Mit einem Boot über das Mittelmeer. Sie kommt in Italien an und wird in einem riesigen Flüchtlingscamp untergebracht. Das kleine Zelt teilt sie sich mit fünf anderen Frauen. Wenn es dunkel wird, geht sie nicht mehr zur Toilette, weil sie Angst hat, dass sie belästigt und vergewaltigt wird. Einer Zeltmitbewohnerin ist das passiert. Die Toiletten und Duschen sind immer dreckig und viel zu wenige für so viele Menschen. Und immer ist da die Angst, dass sie belästigt und misshandelt wird. Als alleinstehende Frau ist Zara "Freiwild" im Camp. Das Sicherheitspersonal bleibt in seinem Container und kümmert sich nicht um die Geflüchteten.

Als Zara starke Bauchschmerzen bekommt und nach einem Arzt fragt, wird sie weggeschickt. Als sie wegen der Bauchkrämpfe nicht mehr aufstehen kann, gibt ihr ein Campmitarbeiter eine Schmerztablette. Erst vier Tage später wird sie zu einer Ärztin gebracht und dann sofort ins Krankenhaus. Von dort ist Zara dann abgehauen und weiter nach Deutschland gekommen.

In München hat sie sich in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete gemeldet und hier in Deutschland Asyl beantragt. Dabei hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellt, dass Zara schon in Italien registriert ist. Darum soll sie dorthin abgeschoben werden. Wir haben sie ins Kirchenasyl aufgenommen und das Bundesamt gebeten, ihren Fall erneut zu prüfen und sie nicht abzuschieben.

Das alles hat sie in Europa erlebt. Die Flucht bis dahin war noch schlimmer und ist allein beim Zuhören schwer erträglich. Ich habe überlegt, ob ich Ihnen das zumuten kann, liebe Hörerinnen und Hörer. Ich habe mich dafür entschieden, denn es gehört zu Zaras Leben. Und viele andere Menschen auf der Flucht erleben das auch. Darum erzähle ich auch diesen Teil. Zara hat ihr Baby auf der Flucht verloren. In Niger, mitten in der Wüste. Doch es bleibt keine Zeit für Untersuchgen durch einen Arzt, sie wird von Schleppern weiter geschleust. In Libyen wird sie mehrere Wochen von einer Miliz festgehalten und täglich vergewaltigt. Ihr wird gesagt, dass sie damit das Geld für die Überfahrt verdienen muss. Und dann kommt der gefährlichste Teil ihrer Flucht: die Fahrt über das Mittelmeer. Über 50 Personen in einem Schlauchboot, in das vielleicht 20 passen. Das Boot gerät in Seenot, ein Mann fällt ins Wasser. Er kann nicht schwimmen. Sie versuchen, ihn zurück ins Boot zu ziehen, doch schaffen es nicht. Nach endlosen Stunden erreichen sie Lampedusa. Vor dort wird Zara auf das italienische Festland gebracht. Die Überfahrt über das Mittelmeer ist die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Und doch wagen es Menschen immer wieder. Im letzten Jahr haben mehr als 145.000 Migrant*innen das Mittelmeer in Richtung Europa überquert. Mehr als 1.100 Personen sind dabei ums Leben gekommen oder werden seither vermisst.[2]

Ins Kirchenasyl kommt regelmäßig eine Psychologin, mit der Zara über all das sprechen kann. Damit sie mit diesen Erlebnissen nicht alleine bleibt.

Wer gibt Zuflucht?

Who will love a little Sparrow ? Wer wird den kleinen Spatz lieben? Der weit gereist ist und danach schreit, sich auszuruhen? Und wer wird ihn füttern? Wer wird ihn wärmen? Nicht ich, sagen so viele im Lied von Simon and Garfunkle. Der Spatz als Symbol für einen Menschen, der Zuflucht sucht. Und verstoßen wird. Von so vielen.

Wie ein Vogel, der aus seinem Nest flüchtet, so ist ein Mann, der aus seiner Heimat flieht. (Spr 27,8)

So steht es im Buch der Sprüche in der Bibel.

Kein Dach über dem Kopf, niemand, der dir Essen gibt, der nach dir fragt. Das haben sie auf ihrer Flucht erlebt: Zara, Ahmed, Sulaiman und sein Sohn. Sie haben es am Ende geschafft, nach Europa zu kommen. Zehntausende haben das nicht.

Will no one write her eulogy? Wird niemand ihre Grabrede schreiben?

"Ich werde", sagte die Erde, "denn alles, was ich geschaffen habe, kehrt zu mir zurück. Von Staub bis du gemacht und Staub sollst du werden. Damit endet das Lied von Simon and Garfunkle.

Manchmal können wir nur noch Grabreden schreiben, nur noch die letzte Würde geben.

Ich bin beim politischen Nachtgebet auf dem Kirchentag in Dortmund 2019. Ich bekomme einen kleinen roten Zettel, darauf steht: Jamila, weiblich, Somalia, 23 Jahre alt. Jamila ist eine von zehntausenden, die bei ihrer Überfahrt über das Mittelmeer gestorben sind. Ich schreibe ihren Namen auf ein großes Stofflaken, unter unzählige andere Namen. Wir sind knapp 200 Menschen in der Kirche und jede und jeder von uns hat einen kleinen Zettel bekommen, auf dem manchmal ein Name, manchmal nur das Geschlecht und das Herkunftsland steht. Alle schreiben wir auf die großen Stofflaken. Die, die manchmal namenlos, aber alle gesichtslos im Mittelmeer ertrunken sind, bekommen jetzt ein Gesicht, einen letzten Gedanken an ihr Leben. Die Stofflaken hängen fünf Tage lang am Kirchturm in der Dortmunder Innenstadt. Diese Menschen sind nicht vergessen.

Als ich Jamilas Namen unter die vielen anderen auf das Stofftuch schreibe, steigt in mir Wut auf. Das darf nicht passieren. Ich sehe gleich eine ganze Reihe von Menschen, die ich dafür verantwortlich mache. Und vielleicht habe ich dabei auch recht, aber Schuld zuweisen ist einfach.

Neben Wut spüre ich auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Ich scheine im "richtigen" Teil auf die Welt gekommen zu sein. Ich bin ein Spatz, der in der höchsten Baumkrone wohnt, ich habe die Scheune voller Weizen. Ich frage mich: Was ist, wenn es meine Buamkrone mal nicht mehr gibt – wer nimmt mich dann auf? Wonach sehne ich mich dann?

Die Erde nimmt jeden wieder auf. Gott, Mutter Erde, nimmt sie wieder auf, die namenlosen Spatzen und Menschen. In jedem Lebewesen begegnet uns Gott. Da sind wir alle Spatzen gleich.

Kirchen als Orte der Zuflucht

Liebe Hörerinnen und Hörer, wenn wir Menschen ins Kirchenasyl aufnehmen, schützen wir sie davor, in ein Land abgeschoben zu werden, in dem sie Erfahrungen machen wie Zara in Italien. Denn leider werden Geflüchtete nicht in allen EU-Ländern menschenfreundlich behandelt. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen ihre Menschenwürde missachtet wird, sie sind Gewalt durch Polizist*innen ausgesetzt und werden nicht ausreichend mit Essen oder medizinisch versorgt. All das verstößt sowohl gegen EU-Recht als auch gegen die Genfer Flüchtlingskonventionen.

Wir geben Kirchenasyl, weil wir überzeugt sind, dass jeder Mensch gleich wertvoll ist, gleiche Rechte hat – egal, an welchem Ort jemand geboren wurde. Denn wir alle sind von Gott geschaffene und geliebte Menschen. Mein Privileg ist es, hier in Deutschland geboren zu sein, mit vielen Türen, die mir offen standen, durch die ich gegangen bin und jetzt als Pfarrerin arbeite. Weil ich diese Vorteile im Leben habe – durch die Geburt – trage ich auch Verantwortung, damit so umzugehen, dass Menschen, die Schutz brauchen, ihn auch bekommen.

Damit nehme ich die Gebote ernst, die in der Bibel seit Jahrtausenden überliefert sind. Dort steht gleich im zweiten Buch Mose:

Du sollst kein haltloses Gerücht verbreiten.

Dem, der im Unrecht ist, sollst du nicht beistehen.

Du sollst als Zeuge nicht abstreiten, dass jemand Gewalt ausgeübt hat.

Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, die das Böse will.

Du sollst in einem Rechtsstreit nicht so aussagen, dass du der Mehrheit folgst und das Recht beugst.

Du sollst das Recht eines Armen, der bei dir lebt, im Rechtsstreit nicht beugen.

Du sollst dich nicht bestechen lassen! Denn Bestechung macht Sehende blind und verdreht die Sache derer, die im Recht sind.

Einen Fremden sollst du nicht quälen. Ihr wisst ja selbst, wie dem Fremden zumute ist. Denn ihr seid in Ägypten Fremde gewesen. (Ex 22 i.A.)

"Weil ihr Fremde ward"…

Gott erinnert sein Volk Israel daran, dass sie selbst einmal Geflüchtete waren. Geflüchtet vor Hunger, vor Dürre. Und dann in Ägypten versklavt. Die Israeliten tragen noch die Narben auf dem Rücken, die die Peitschen hinterlassen haben. Sie schmecken noch den Staub der Baustellen, auf denen sie schuften mussten. Gott befreit sie aus der Sklaverei und verspricht ihnen ein neues Land. Und für das Zusammenleben dort gibt Gott ihnen Regeln. Damit Israel es einmal besser macht. Weil Israel das Salz der Tränen geschmeckt hat, als sie rechtlos waren.

Auch heute leben in Deutschland viele Menschen, die das kennen: auf der Flucht sein, die Heimat verlassen müssen. Vielleicht mussten Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, auch fliehen, im zweiten Weltkrieg, oder Ihre Eltern oder Großeltern. Vor Bomben in den Großstädten, aus Ostpreußen, aus Schlesien. Vielleicht hat auch Ihre Großmutter auf der Flucht Angst gehabtvergewaltigt zu werden. Vielleicht wollte auch Ihr Onkel nicht als Soldat kämpfen.

Das alte Gesetz in der Bibel erinnert mich daran, wie wir alle angewiesen sind auf Solidarität und Gemeinschaft, wir alle – Schutzsuchende und ihre Gastgeber*innen. Damit wir eine Zukunft haben.

Schon jetzt bereichern die Gäste bei uns im Kirchenasyl mein Leben. Ich lerne ihre Lieblingsmusik kennen, ein paar Wörter Arabisch und wie ihr Lieblingsgericht schmeckt, das ihre Mutter für sie gekocht hat. Ich bewundere unsere muslimischen Gäste, wie sie den Ramadan halten und zu Ostern färbe ich für sie Eier bunt. Ich spüre hier: Wir sind alle Teil einer großen Weltfamilie. Alle von Gott gesehen und geliebt.

Das hat denn Blick auf mein eigenes Leben verändert: Mir ist so viel mehr bewusst, wie reich ich beschenkt bin. Manches, was mich früher schnell verärgert hat, sehe ich jetzt entspannter, weil ich merke: ich kann dankbar sein, wenn nur der nicht geputzte Flur gerade mein Problem ist.

Ehemalige Gäste aus unserem Kirchenasyl arbeiten jetzt als Koch, machen eine Ausbildung in der Zahnarztpraxis. Sie arbeiten, verdienen Geld und tragen dazu bei, dass alle hier gut leben können.

Eigentlich verbindet uns so vieles.

Weil wir Gäste sind auf dieser Erde

Für Zara beginnt bei uns im Kirchenasyl ein Stück Zukunft. Nach zwei Wochen schreibt sie ihren Einkaufszettel auf Deutsch, nach und nach antwortet sie immer öfter auf Deutsch. Als die ersten Frühlingstage kommen und die Sonne den Nachmittag wärmt, stellen wir im Garten Tisch und Bänke auf und essen gemeinsam. Ahmed hat Linsensuppe gekocht, Zara hat Schokoladenkuchen gebacken. Da greift vor allem der kleine Mohammed zu. Mit am Tisch sitzen auch zwei Deutschlehrer*innen. Denn heute feiern wir Abschied von Zara. Ihre Überstellungsfrist ist vorbei, sie braucht keine Angst mehr zu haben, nach Italien abgeschoben zu werden. Jetzt darf sie in Deutschland Asyl beantragen. An diesem Nachmittag feiern wir den Neubeginn von Zaras Leben. Sie erzählt auf Deutsch, dass sie eine Ausbildung zur Krankenschwester machen möchte. Das war schon in Nigeria ihr Traum. Und dass sie ganz bald zu Besuch kommen wird. Sie zeigt Fotos von ihrem Dorf in Nigeria und von ihrer besten Freundin dort. Zara macht sich Sorgen um sie. Das wird wohl so bleiben. Auch wenn sie hier einen Aufenthalt bekommt, wird ihre Heimat Nigeria in ihrem Herzen bleiben. Und die Sorge um die Menschen dort, die sie liebt.

Als Zara und ich uns verabschieden, breitet sie Arme aus und sagt: "God bless you! Danke für alles!" und uns beiden läuft eine kleine Träne aus den Augenwinkeln. Ich freue mich, dass es jetzt endlich weiter geht für sie. Und ich bin traurig, dass sie uns verlässt, nach vier Monate. Ich werde sie vermissen.

Und ich weiß: ihr Bett wird nicht lange leer bleiben. Die nächste Anfrage für einen Platz bei uns im Kirchenasyl liegt schon in meinem Postfach. Und unsere Türen bleiben offen. Denn wir sind alle nur Spatzen Gottes, Gäste auf dieser Erde.

 

[1] Bischof Dr. Christian Stäblein, Flüchtlingsbeauftragter des Rates der EKD, in "Kirchenasyl. Eine biblisch-theologische Grundlegung", S. 3 "Zum Geleit"

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Florian Meier am So, 22.06.2025 - 08:08 Link

Ein fragwürdiger Bericht, der impliziert, dass staatliche Stellen grundsätzlich herzlos agieren und die Menschenrechte mißachten. Zum Glück tun sie das in der Regel nicht. Abschiebungen sind sehr selten z. B. 20100 in Deutschland im letzten Jahr bei über 220000 Neuanträgen, d. h. über 90% bleiben sowieso und bei den Abschiebungen geht es auch nicht unbedingt direkt in den Folterkeller. Das hier beschriebene Dublinverfahren hätte nach Italien geführt. Nun kann man diskutieren, ob es gut ist eine junge Person nach jahrelanger Odyssee nun noch einmal durch Europa zu verschieben, wo wieder eine fremde Sprache wartet, aber unbarmherzig ist das nicht unbedingt, wenn man auch berücksichtigt, welche Verhältnisse mancherorts durch die starken Zuzüge bereits bestehen (fehlender Wohnraum, Klassen mit enormen nichtdeutschsprachigem Schüleranteil, der an einen normalen Schulalltag kaum mehr denken lässt, Behördenüberforderung, die zu endlosen Verfahren führt). Es ist richtig, dass die Kirche immer den Einzelfall betrachtet "niemand soll verloren werden, der auf dunkler Straße irrt" heißt es zurecht in einem Segenslied. Die Kirche sollte sich aber hüten zwecks Selbsterhöhung Vertrauen in den Staat zu untergraben oder mit Halbwahrheiten zu arbeiten. Das Fluchtthema wird uns auch aufgrund der aktuellen Weltlage wohl noch lange beschäftigen wie die Autorin richtig erkennt. Daher ist hier eher mehr Nüchternheit, weniger Emotion gefragt und vor allem langfristige Überlegung, damit die Solidarität nicht plötzlich komplett zusammenbricht, was durchaus ein reales Risiko ist. Das Kirchenasyl als rechtliche Institution existiert nicht mehr. Kirchen sind kein rechtsfreier Raum. Es handelt sich um ein stilles Agreement zwischen Behörden und Kirche für Härtefälle und sollte nicht überdehnt werden um die Akzeptanz zu wahren. Staatliche Stellen sind sicher nicht fehlerlos: Verfahren sind schwerfällig, Betroffene leiden unter unnötiger Ungewissheit und quälend langsamen Verfahren, unverständlichen Behördenschreiben, die Panik auslösen, obwohl es nur um eine Formalie geht, Ineffizienz, die Leid verursacht, weil sie die Aufnahme einer sinnstiftenden Beschäftigung erschwert oder gar verhindert oder unnötige Geldsorgen generiert und das bei Personen, die eh schon durch Flucht und Anpassungsdruck unter erheblichem Stress stehen. Bei all dem kann die Kirche Härten lindern helfen und soll dies auch tun. Es ist aber auch nötig die Leistung der deutschen Gesamtgesellschaft zu würdigen, die ebenfalls ständig Integration leisten muss und auch die Resilienz gegenüber den mit Zuwanderung verbundenen Veränderungen zu stärken ohne das Gefühl der Selbstaufgabe. Richtig ist nämlich auch: Behördenmitarbeiter und Lehrer kann man nicht backen, sie müssen ausgebildet werden und brauchen unter erschwerten Bedingungen vielleicht sogar zusätzliche Weiterbildung und reduzierte Arbeitszeitbelastung oder einen besseren Personalschlüssel. Schulen kann man nicht herzaubern, sie müssen geplant und gebaut werden, was Jahre dauert ebenso Wohnungen. Vieles ist lösbar und es kann sich auch lohnen, denn neue Perspektiven und junge Menschen tun der Gesellschaft gut. Wir sollten uns aber auch im klaren sein, dass wir an sich eine alternde, schrumpfende Gesellschaft sind, d. h. Wohlstand und Einfluß werden eher sinken, verfügbare "Deutschlehrer" wegsterben und ein starker Zusammenhalt ist wichtig, damit uns der Laden nicht um die Ohren fliegt. Das ist in einer Zuwanderungsgesellschaft eine Mammutaufgabe, die sich nicht in kirchlichen Gemeindesälen lösen läßt. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Daher würde ich mir von der Kirche in der Außendarstellung etwas mehr nüchterne Analyse als naive Dauereuphorie wünschen. Die darf es im Konkreten an der Basis ruhig einmal geben, denn ohne Optimismus wird es im Ehrenamt schwierig. Die Kirche als Gesamtinstitution sollte aber auch einen Blick für das Ganze haben: Die Begeisterung für Flüchtlingsaufnahme und -arbeit ist deutlich gedämpft. Politisch ist fast im ganzen Westen eine starke Neigung zu konservativer bis rechtsnationaler Politik erkennbar. Einst mächtige sozialdemokratische Parteien sind ähnlich wie die Großkirchen der Selbstauflösung nahe, während radikale Parteien und konservative Glaubensströmungen starkes Oberwasser haben. Mehr vom Selben wird das wohl kaum ändern. Das ist nun kein Wunsch nach einer menschenfeindlichen oder sozial blinden Kirche - im Gegenteil: Ich wünsche mir, dass ein Teil der sozial engagierten und offenen Kirche überlebt. Wir werden ihn bitter brauchen.