Erstmal bitte ich Sie um eine theologische Einschätzung: Inwieweit ist Suizid aus biblischer Sicht abzulehnen?

Reiner Anselm: Gar nicht. Das kann man ganz einfach sagen. Es gibt fünf Stellen in der Bibel, an denen Suizide erwähnt werden. Vier sind im Alten Testament, eine im Neuen Testament. Und die beinhalten alle keine Wertung darüber, sie sind neutral. Fakt ist, dass die negative Bewertung des Suizids erst durch Augustin in die Welt gekommen ist. Die gab es so vorher nicht.

Aber es ist nicht nachvollziehbar, aus der Tatsache, dass Gott uns das Leben schenkt, abzuleiten, dass es frevelhaft ist, dieses Geschenk quasi zurückzuweisen oder abzulehnen?

Reiner Anselm: Nein, das ergibt sich ja schon unmittelbar aus der Semantik des Geschenks. Ein Geschenk ist deswegen ein Geschenk, weil es gegeben ist und in den Verantwortungs- und Eigentumsbereich des Empfängers übergeht. Und so beim Leben natürlich auch. 

Trotzdem argumentieren viele so.

Reiner Anselm: Ja. Aber man merkt ja schon, wenn man das Bild verwendet, dass es schief ist: Wenn Sie etwas geschenkt bekommen haben, können sie damit machen, was sie wollen und sind nicht an den Wunsch des Schenkenden gebunden. Der Punkt, der bei Augustin eine Rolle spielt, ist ein anderer.

Welcher ist das?

Reiner Anselm: Es geht da um einen sehr komplizierten Fall von Ordensfrauen, die geschändet worden sind. Und darum, angesichts diese Schändung nicht selbst zu sühnen, da sonst praktisch das Urteil über das richtige Verhalten und das richtige Leben nicht Gott vorbehalten bleibt, sondern sie sich selbst verurteilen, und zum Tode verurteilen.

Das ist natürlich eine ganz andere Begründung als die mit dem Lebensgeschenk.

Reiner Anselm: Es gibt sicherlich auch Fälle, für die Augustins Problemanzeige zutrifft, also diejenigen Suizide, wo sich jemand umbringt, um ein Statement zu setzen. Oder auch, um andere auch ins Unglück stürzen. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Das wird man sicherlich als solches problematisch finden. Aber aus der biblischen Tradition ist es schwierig, sich eine Position anzueignen, die grundsätzlich den Suizid für problematisch erklärt. Auch wenn grundsätzlich gilt: Gott will das Leben - aber, da ist die biblische Tradition ganz eindeutig, nicht um jeden Preis.

Wo würden Sie denn da die Grenze ziehen, ab wann für Sie ein Suizid problematisch ist? Spielt das Alter da eine Rolle?

Reiner Anselm: Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen denjenigen Formen des Suizids, die ausgelöst werden durch einen wie auch immer gearteten, belastenden Prozess einer zum Tode führenden Krankheit  und denen, die aus einer akuten, aber grundsätzlich beherrschbaren Störung oder Leiderfahrung entstehen. Also der vielzitierte Teenager mit Liebeskummer ist anders zu bewerten als derjenige, der an Chorea Huntington leidet. Das ist aber wiederum keine Frage des Alters, sondern es ist eine Frage des Szenarios.

Wie ist das bei Menschen mit einer psychischen Störung?

Reiner Anselm: Das ist natürlich ein sehr schwieriger Bereich. Es gibt auch aus psychischen Erkrankungen heraus den Wunsch zum Suizid und auch das Realisieren desselben. Das ist aus der außenstehenden Perspektive möglicherweise therapierbar und behebbar. Aber gerade psychische Krankheiten sind etwas, was wir auch ethisch ganz schwer in den Griff bekommen. Wieviel Respekt müssen den Wünschen auch psychisch Kranker entgegengebracht werden? Wie stark muss man solchen Wünschen widersprechen, ohne die Person zu entmündigen? Dennoch würde  ich sagen: Depressionen sind grundsätzlich gut behandelbar. Darum würde ich einen Suizidwunsch, der aus einer Depression heraus erfolgt, gänzlich anders beurteilen als Situationen, in denen eine unheilbare Krankheit am Horizont steht.

Was bedeutet das für die Prävention, also die Verhinderung von Suiziden bereits im Vorfeld?

Reiner Anselm: Grundsätzlich kann man sagen: Eine effektive Prävention heißt, mit den Menschen in Beziehung bleiben. Wir müssen realistisch bleiben: Bei aus dem Affekt heraus begangenen Suiziden werden wir zur Prävention nichts beitragen können. 

Reiner Anselm

Reiner Anselm, geboren 1965, ist evangelischer Theologe. Er lehrt Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Anselm setzt sich unter anderem mit ethischen Problemen der Medizin, besonders der Biomedizin auseinander. Er gründete 2008 gemeinsam mit Ulrich H. J. Körtner die Reihe Edition Ethik und ist seit 2014 Mitglied der Ethikkommission des Freistaats Bayern.

Wir müssen also akzeptieren, dass es auch Fälle gibt, die durch nichts zu verhindern wären?

Reiner Anselm: Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass Suizide nicht notwendigerweise immer einhergehen mit dem Versagen von Präventionsangeboten oder der Angehörigen, etwa der Eltern. Suizid wird als Bestandteil menschlicher Freiheit immer vorkommen und wird nicht eo ipso darauf zurückzuführen sein können, dass hier jemand alleingelassen worden ist, dass man Signale falsch gedeutet hat. Es ist wichtig, das auch zu sagen. Gerade wenn Eltern ihre Kinder verlieren, muss man ihnen mitteilen: Es gibt einfach Situationen, in denen ihr das nicht voraussehen konntet. Und ihr seid keineswegs automatisch schuld, dass sich euer Kind umgebracht hat. Man muss auch die Grenzen der Präventionsmöglichkeiten artikulieren und zu akzeptieren lernen. 

Das stelle ich mir schwierig vor, gerade bei Eltern, wo die eigenen Kinder sich umbringen. Da wird es doch sehr naheliegend sein, dass man dann die Schuld bei sich selbst sucht?

Reiner Anselm: Gerade da ist es ein Segen, solche Schuldvorwürfe nicht zu verstärken, sondern zurückzuweisen. Es gehört zur conditio humana, dass wir anders, als die Tiere, eben über unser Leben verfügen können. Und es ist nicht immer so, dass andere versagt haben, wenn sich jemand umbringt. Fakt ist, wir wissen häufig definitiv nicht, was jemanden zu diesem Schritt gebracht hat. Dieses Unwissen ist schwer auszuhalten - aber wir sollten dennoch uns zurückhalten, nach Schuldigen zu suchen.

Was kann die Kirche in diesem Bereich leisten?

Reiner Anselm: Kirche kann gesellschaftlich noch mehr dazu beitragen, psychische Erkrankungen von ihrem Stigma zu befreien. Da müsste sie allerdings auch, ehrlich gesagt, in ihrem eigenen Dienstrecht anfangen: Menschen, die aufgrund einer Depression in klinischer Behandlung waren, haben Schwierigkeiten, als Pfarrerinnen und Pfarrer verbeamtet zu werden. Nicht alle, aber ein Teil dieser Erkrankungen sind gut therapierbar. Aber es gibt wegen der angesprochenen Stigmatisierung nach wie vor starke Vorbehalte, sich in eine psychiatrische Behandlung zu begeben. So gehen etwa unsere Studierenden, die in der Prüfungsvorbereitung mitunter in schwere psychische Krisen kommen, nicht zum Arzt, weil sie Angst haben, dass sie das nachher angeben müssen und es möglicherweise ihre Karriere verbaut. Aber natürlich ist das nicht alles: Grundsätzlich sollten Menschen in der Kirche in  aufmerksam sein auf Menschen, die in schweren psychischen Krisen sind und sich der Stigmatisierung solcher Erkrankungen, gerade auch der Depression, entgegenstellen.

Wie offen sind Sie dafür, dass die Kirche auch beim assistierten Suizid eine aktive Rolle einnimmt?

Reiner Anselm: Kommt darauf an, was man als aktive Rolle versteht. Wir sollten uns auf jeden Fall nicht zurückziehen vor den Menschen, die am Ende ihres Lebens im Angesicht einer unheilbaren Krankheit sich das Leben nehmen möchten. Die müssen wir auch begleiten, an ihrer Seite stehen. Ich würde lieber mit dem, der Suizid begehen möchte, noch ein Vaterunser beten, als den allein zu lassen um ihm so zu zeigen, dass ich seine Entscheidung missbillige.

Also sollte die Kirche das anerkennen?

Reiner Anselm: Wenn man dabei ist als Kirche und das nicht nur zufällig macht, dann ist man immer auch Teil eines solchen organisierten Prozesses. Dann kriegt man es auch mit der Frage zu tun: Soll ich das dann verhindern oder nicht? Ich denke: Der Respekt vor der Persönlichkeit des Suizidwilligen gebietet es, die Entscheidung, durch einen assistierten Suizid aus dem Leben zu schwinden, zu akzeptieren. Dennoch bleibt es natürlich unsere Aufgabe, auch immer wieder darauf hinzuweisen, dass keiner nur für sich selbst lebt. Das heißt konkret,  dass ein Suizid möglicherweise eben auch Folgen für Angehörige und Zugehörige hat, die man so gar nicht vorausgesehen hat.

Was meinen Sie damit?

Reiner Anselm: Ein Beispiel: In diesem Kontext taucht immer wieder das Narrativ auf: Ich will niemandem zur Last fallen. Da muss man mitunter denen, die sich suizidieren wollen, sagen: Es spricht einiges dafür, dass ihr den An- und Zugehörigen am meisten zur Last fallt, wenn ihr euch umbringt. Inwieweit man sich dann an konkreten Prozessen beteiligt, das ist noch mal eine andere Frage. Aber da ist Kirche zunächst mal gar nicht primär gefragt, weil der Suizid eine Handlung dessen ist, der sich umbringt. Das wird oft vergessen. Es ist eigentlich ganz klar, aber geht doch oft unter: Eine Suizidassistenz ist etwas anderes als eine Sterbehilfe. Und  gleichzeitig ist das Verordnen der entsprechenden Medikamente natürlich keine seelsorgerische, sondern eine ärztliche Aufgabe, insofern sind die Kirchen hier gar nicht primär involviert - auch wenn es natürlich Grenzbereiche gibt, etwa im Fall von Ärztinnen und Ärzten, die bei der Kirche beschäftigt sind. Aber das sind dann doch sehr wenige Fälle.

Aber für die Sterbebegleitung plädieren Sie schon?

Reiner Anselm: In der katholischen Tradition gibt es die Rede von dem minus malum, also dass man sagt: Wir haben zwei schlechte Fälle. Die Tatsache, dass jemand durch Suizid sterben möchte, ist schlecht, und dass jemand stirbt, aber nicht begleitet wird, ist auch ein Malum, etwas Schlechtes – und zwar ein noch größeres Übel. Das bedeutet: Wenn es schon so ist, dass jemand sterben will, dann ist das Dabeibleiben das, was uns aufgetragen ist.

Wie drängend ist das Problem eigentlich?

Reiner Anselm: Zur Wahrheit gehört auch, dass es uns gelungen ist, in den vergangenen 30 Jahren die Zahl der Suizide fast zu halbieren. Das wissen viele gar nicht. Es ist keineswegs so, dass die Suizide beständig zunehmen, ganz im Gegenteil.

Worauf führen Sie denn diesen Rückgang zurück?

Reiner Anselm: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Wir werden natürlich eine bessere psychische Versorgung haben, auch wahrscheinlich bessere ökonomische Faktoren. Es könnte auch eine Rolle spielen, dass das die Lebenszuversicht höher geworden ist. Wer hier Genaueres wissen möchte, stößt auf eine eigentlich skandalös schlechte Datenlage. Wir wissen zum Beispiel gar nicht genauer, in welcher Konstellation sich jemand umgebracht hat, weil dies nicht gesondert erfasst wird. Die einzigen beiden Informationen sind, welches Bundesland und welches Alter. 

Das sagt ja so gut wie gar nichts aus.

Reiner Anselm: Eben. Das ist skandalös, weil es eine zielgerichtete Prävention eigentlich unmöglich macht. Auch hier ein Beispiel: Wenn sich jemand aus dem Affekt heraus vor den Zug wirft, werden wir dies kaum durch Prävention verhindern können. Aber wir wissen gar nicht genau: Machen solche Suizide aus Affekt 80 Prozent der Suizide aus oder ist das nur ein Prozent? Und umgekehrt: Wieviel Suizide wurden länger angekündigt? Keine Ahnung, das wird nicht erfasst.

Wie kommt das?

Reiner Anselm: Das hat viele Gründe. Das eine ist, dass die Datenerhebung fast automatisch mit einem ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte verbunden ist. Man müsste statistisch einen möglichen Abschiedsbrief oder etwas Vergleichbares auswerten. Das ist natürlich schon nicht ganz unproblematisch. Und was würde das bedeuten, wenn die Hinterbliebenen gegenüber der Polizei offenbaren müssten, dass zum Beispiel eine bevorstehende Festnahme oder eine Straftat, die vielleicht noch gar nicht geahndet ist, der Grund war? Dann kommt dazu, dass natürlich die Ermittlungen im Blick auf einen Suizid oder ein Tötungsdelikt immer auch für Angehörige schwierig und belastend sind, so dass mitunter auch verschleiert wird, dass es tatsächlich ein Suizid war.

Also tappen wir völlig im Dunkeln?

Reiner Anselm: Nicht ganz, aber weitestgehend. Was interessant ist: Es gibt deutlich mehr Suizidversuche als erfolgreiche Suizide, ungefähr doppelt so viele.

Was auch immer das dann wieder heißt – ob die, die scheitern, vielleicht gar nicht wirklich wollen oder ob nur etwas technisches schief ging?

Reiner Anselm: Ja, genau. Das wissen wir auch nicht. Das macht alle Einschätzungen sehr schwierig und anfällig für problematische Schlüsse.

Also könnte man zum Welttag der Suizidprävention sagen: Wir brauchen einfach mehr Informationen und mehr Bewusstsein und Achtsamkeit für das Thema.

Reiner Anselm: Genau. Wir müssen mehr darüber reden, müssen aufmerksamer werden, auch wenn es schwierig und belastend ist.

Hilfsangebote zur Suizidprävention

Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und auch geheilt werden.

Hier findet Ihr Hilfsangebote für Betroffene und Angehörige:

  • Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenfrei und anonym erreichbar unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer: 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222. Um die Anonymität der Anrufer zu wahren, ist die Übermittlung der Rufnummer gesperrt und wird somit in keinem Display der Telefonseelsorge angezeigt. Anrufe bei der Telefonseelsorge werden auch im Einzelverbindungsnachweis nicht aufgeführt.
  • Auch im Internet kann die Telefonseelsorge kontaktiert werden unter: www.telefonseelsorge.de 
  • Weitere Informationen zu Hilfsangeboten – beispielsweise Selbsthilfegruppen – finden sich auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: www.suizidprophylaxe.de 

Hilfsangebote im Netz: