In der Passionszeit sind die Christen angehalten, über den Tod Jesu nachzudenken. Genau das hat der frühere rheinische Superintendent Burkhard Müller aus Bonn in seinen morgendlichen Radioandachten im WDR getan - und hat damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. "Ich glaube nicht, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist", sagte der Theologe Ende Februar seinen Zuhörern. Müller vertritt die Meinung, Gott brauche kein Sühnopfer, um den Menschen vergeben zu können: "Jesus ist nicht gestorben, um uns von unseren Sünden zu befreien. Er ist gestorben, weil die Mächtigen ihn nicht leben lassen wollten." Nicht Gott habe seinen Tod gewollt, sondern seine Feinde.

Heftige Reaktionen der Zuhörer

Die Aussagen Müllers lösten unter den Hörern heftige Reaktionen aus. 250 Telefonanrufe gingen im Büro des Evangelischen Rundfunkbeauftragten Gerd Höft in Düsseldorf ein, dazu etwa 200 Briefe und E-Mails. "Da haben Sie aber eine Lawine losgetreten", schreibt ein Hörer in einem Internet-Forum, und ein anderer bekennt: "Sie schaffen es auf ungewohnte Art, etwas für meinen Blutdruck zu tun." Die Reaktionen, die noch immer nicht abreißen, bewegen sich zwischen Entsetzen und Begeisterung.

Manche sind schockiert und werfen dem 70-jährigen Müller Verzerrung, Scharlatanerie und Irrlehren vor. Der Bonner Theologieprofessor Ulrich Eibach kritisiert Müller, seine Bekanntheit als Rundfunkpfarrer benutzt zu haben, "um Morgenandachten zur Verbreitung von Häresien, also zur Zerstörung eines zentralen Inhalts christlichen Glaubens, zu missbrauchen". Müller fehle die nötige Ehrfurcht vor dem Geheimnis und dem Unbegreiflichen der Liebe Gottes zum Sünder. Müller löse dieses Geheimnis auf, ohne den Versuch zu machen, es zu verstehen.

Befreiung von Schuldgefühlen

Andere danken dem ehemaligen Sprecher des "Worts zum Sonntag". Eine Frau schreibt: "Es hat mir in meiner Kindheit schon große Schuldgefühle und Traurigkeit gemacht, dass der arme Jesus schon vorausschauend für meine armseligen 'Sünden' elend am Kreuz umkommen musste." Ungefähr 120 Anrufer stimmten Müller zu, 250 Hörer haben das Manuskript angefordert, um es genauer zu studieren.

Die Deutung des Todes Jesu ist umstritten - auch in der Theologie. Dass die Emotionen derart hochgehen, findet der Heidelberger Professor Gregor Etzelmüller verständlich: Es gehe schließlich um zentrale Glaubensaussagen und die persönliche Frömmigkeit, auch das Abendmahl als zentraler christlicher Ritus sei berührt. Gestritten wird darum, ob der Tod Jesu ein stellvertretendes Sühneopfer für die Sünden der Menschheit war - eine wichtige Glaubensaussage christlicher Bekenntnisschriften. Sie wurde in der Geschichte des Christentums wiederholt infrage gestellt.

Braucht Gott den Tod seines Sohnes, um vergeben zu können?

Der Disput der letzten Jahre entzündete sich vor allem an Büchern des Theologen Klaus-Peter Jörns (Berg bei Starnberg) mit den bezeichnenden Titeln "Notwendige Abschiede" und "Abschied vom Sühnopfermahl". Jörns wendet sich gegen die Vorstellung eines zornigen Gottes, der den Tod seines Sohnes brauche, um vergeben zu können. Dies widerspreche der unbedingten Liebe Gottes. Den Vertretern einer Opfertheologie werden Gewaltverklärung und ein "sadistisches Gottesbild" vorgeworfen, das von der Bibel nicht gedeckt sei. Der Benediktinerpater Anselm Grün bringt es auf den Punkt: "Gott braucht den Tod seines Sohnes nicht, um vergeben zu können, weil er bedingungslos liebt."

Die Kritiker der Sühnopfer-Deutung wiederum müssen sich vorhalten lassen, sie banalisierten den Glauben. Ohne den Opfergedanken verliere der Tod Jesu seine besondere Bedeutung. Konservative Theologen befürchten auch, dass Sühnegedanken zu schnell und glatt ad acta gelegt werden und einer "billigen Gnade" das Wort geredet werden könnte.

Gott brauche auch kein Sühneopfer

Natürlich wird in solchen Debatten auch immer schnell nach der Kirchenleitung gerufen. Professor Eibach und andere namhafte Theologen haben den rheinischen Präses Nikolaus Schneider um Klärung gebeten. "Herrn Müllers Karikatur der Versöhnungslehre scheint also notwendig gepaart zu sein mit einer Leugnung der Gottessohnschaft Jesu Christi", schreibt Eibach. Er fordert eine Antwort des Präses, ob Müllers Aussagen mit den Bekenntnisgrundlagen der rheinischen Kirche vereinbar seien. Wenn die Kirche das hinnehme, habe sie sich als Kirche Jesu Christi selbst aufgelöst, so Eibach.

Präses Schneider reagierte gelassen und sprang seinem Rundfunkprediger sogar bei: Der Tod Jesu am Kreuz sei nicht als Sühneopfer für die Sünden der Menschheit zu verstehen, stellt Schneider klar. Jesus sei "nicht im Sinne einer stellvertretenden Übernahme von Strafe" für die Menschen gestorben. Gott brauche auch kein Sühneopfer, "denn es muss ja nicht sein Zorn durch unschuldiges Leiden besänftigt werden".

Schneider ist sicher, dass Jesus den Weg ans Kreuz freiwillig gegangen ist: "Das war ein Selbstopfer." Den Tod Jesu versteht er als "Ausdruck dafür, dass Gott in Jesus Christus bis zum bitteren Ende des Lebens ganz Mensch blieb, damit wir Menschen uns auch in unseren Todeserfahrungen von Gott begleitet wissen können".

Die Menschen bräuchten die Botschaft vom Kreuz "als Zeichen für Gottes Liebe und Solidarität, als Symbol für das Mitgehen Gottes mit uns durch den Tod hindurch", sagte der leitende Theologe der rheinischen Kirche, mit 2,9 Millionen Protestanten die zweitgrößte Landeskirche in Deutschland. "Das Kreuz ist der schwere Weg hin zur Auferstehung."

"Gott brauchte die Bosheit der Römer nicht, er gebrauchte sie"

Kritik äußerte Schneider an Interpretationen des Kreuzestodes, "die sich im Leiden suhlen", wie das etwa im Film "Die Passion Christi" der Fall sei. Das Leiden müsse zwar erduldet werden, aber es habe keinen Wert an sich: "Das Leiden ist der schwere Weg zum Leben und zur Herrlichkeit." Schneider verweist aber auch auf eine rätselhafte, dunkle Seite Gottes. Er wolle "die Interpretation des Kreuzestodes nicht verkürzen und die Spannungen nicht auflösen". Auch in der Bibel gebe es verschiedene Deutungen des Zusammenhangs von Kreuz und Auferstehung. "In diesem Rahmen" seien deshalb auch die rheinischen Pfarrer frei, das Kreuzesgeschehen in ihren Predigten zu interpretieren.

Theologieprofessor Eibach wirft Schneider deshalb nun vor, Häresien (Irrlehren) zu verteidigen. Mit der Ablehnung des Stellvertretungsgedankens leugne der Präses die Heilsbedeutung des Todes Jesu.

Keine Grundlage für die "Satisfaktionstheorie"

Die heutige Theologie ist sich dagegen weitgehend einig, dass der Tod Jesu nicht den Zorn Gottes beschwichtigen soll. Damit verliert die mittelalterliche "Satisfaktionstheorie" des Theologen und Philosophen Anselm von Canterbury an Boden. Anselm versuchte vor rund 1.000 Jahren in seinem Buch "Cur deus homo" (Warum Gott Mensch wurde) mit der Argumentation eines Juristen zu beweisen, dass Gott notwendig Mensch werden musste, um die durch die Erbsünde gefallene Menschheit mit Gott wieder zu versöhnen. Der Opfertod Jesu ist demnach die angemessene Wiedergutmachung für die Beleidigung der Ehre Gottes. Rolf Wischnath, Honorarprofessor an der Universität Bielefeld, hält Anselms Lehre sogar für "einen der verhängnisvollsten theologischen Irrtümer der Christengeschichte". Auch der Heidelberger Theologe Gregor Etzelmüller stellt fest, dass das Neue Testament an keiner Stelle das Handeln der Henker mit dem Handeln Gottes, des Vaters, in eins setzt: "Die Vorstellung, Gott schlachte am Kreuz seinen eigenen Sohn, ist deshalb zu verabschieden."

Das Leben Jesu im Zentrum

Kritiker der Sühnopfertheologie, wie der Nürnberger Reich-Gottes-Theologe Claus Petersen, mahnen, das Leben Jesu mehr in den Blick zu nehmen. Denn Jesus wird ja aufgrund des Lebens, das er geführt hat, getötet - eines Lebens der Liebe und Hingabe. Weil er sich denen zuwandte, die als Sünder, als Ausgestoßene galten, stieß er auf Widerstand bei den Mächtigen seiner Zeit. "Sein Tod ist die Konsequenz des abgrundbösen Tuns seiner Peiniger, der frommen Spötter und der feigen Jünger", so Rolf Wischnath. Nicht Gott übt also Gewalt. Jesus wurde vielmehr Opfer der Gewalt unter Menschen.

"Gott brauchte die Bosheit der Römer nicht, er gebrauchte sie", formuliert es der Heidelberger Theologe Klaus Berger. "Er hatte Gewalt und Blutvergießen nicht nötig, sondern er fand sie vor. Er ist nicht an den Weg der Grausamkeit gebunden, sondern verwandelt ihn ins Gegenteil." Gott bindet Vergebung also nicht an Gewalt, sondern antwortet auf Gewalt mit Vergebung. Jesus verkündete die vergebende Liebe Gottes schon während seines ganzen Lebens - und hielt sie durch bis zum Kreuz. Laut Lukas betet Jesus selbst am Kreuz noch um Vergebung für seine Mörder. Der Blick auf das Kreuz ermöglicht also auch heute den Glauben an die vergebende Liebe Gottes.

Gott ist uns nah in unserem Leid

Der Tod Jesu hat durchaus mit der Sünde zu tun. Zunächst einmal ist er Folge der Sünde. Denn Jesus wird aus Eifersucht und Hass den Römern ausgeliefert, von Menschen ans Kreuz geschlagen, die das Recht mit Füßen treten. Am Kreuz wird also die Sünde der Welt sichtbar. Jesus erleidet sie am eigenen Leib. Für die Menschen trägt er die Sünde, vergibt sie, damit Menschen davon frei werden.

Der Gedanke der Stellvertretung ist in der Bibel aber nicht nur auf Sünde und Schuld bezogen, sondern auch auf das Leiden. Jesus hat keine Erklärung dafür gegeben, warum Menschen leiden müssen. Er gibt eine Antwort, indem er selbst in das Leiden hineingeht. In diesem Sinne kann man sagen: Er trägt auch unser Leid mit, Gott ist uns nah in unserem Leid.