Das neue Jahr steht vor der Tür und gute Vorsätze haben Konjunktur. Weniger Zigaretten, mehr Sport - welche Ideen wären noch eine Anstrengung wert? In Zeiten von steigender Unverbindlichkeit und Fake News könnte mehr Wahrhaftigkeit ein lohnenswertes Ziel sein. Aber geht das überhaupt, immer ehrlich? Und was ist mit all den kleinen und großen Alltagslügen? Ein Gespräch mit der Philosophin und Theologieprofessorin Katharina Ceming.

Frau Ceming, Kindern schärft man ja ein, immer die Wahrheit zu sagen. Ist das eigentlich realistisch - und sinnvoll?

Ceming: Unter vier Jahren ist das sinnlos, weil Kinder bis dahin sowieso nicht lügen können. Ihnen fehlt die "Theory of mind", die Einsicht, dass andere die Welt anders betrachten könnten als sie selbst. Lügen zu können, ist tatsächlich ein Entwicklungsschritt. Die Frage ist, nicht nur an Kinder, sondern vor allem an uns selbst: Müssen wir immer unter allen Umständen bei der Wahrheit bleiben?

Und, müssen wir?

Ceming: Nun, es gibt Wahrheitsfundamentalisten wie Immanuel Kant. Er hat tatsächlich die Ansicht vertreten, wir dürften nie, unter keinen Umständen lügen. Alle anderen wissen, dass es sehr viele Formen von Lügen gibt. Es gibt die - moralisch verwerfliche - Lüge, die dem eigenen Vorteil dient. Und es gibt das ganze Feld der sogenannten sozialen Lüge, wo wir nicht immer bei der Wahrheit bleiben, um einem anderen Menschen nicht weh zu tun.

Warum sind diese Notlügen so unwiderstehlich?

Ceming: Weil wir als soziale Wesen erkennen, dass die Wahrheit nicht der einzige Wert ist, der unser Leben gestaltet. Es gibt daneben Werte wie Empathie, Solidarität, Gerechtigkeit. Die große Frage ist immer, welchen Wert ich in welcher Situation für wesentlich erachte. Dann greift man auch mal zur Notlüge. Die Freundin hat einen neuen Haarschnitt, sie findet ihn wunderbar, man selbst grauenvoll: Da ist es wohl vom Einzelnen und der Situation abhängig, wie wir uns verhalten.

Richten Notlügen als Mittel zur Alltagsbewältigung irgendwann Schaden an?

Ceming: Lügen ist sehr viel anstrengender, als die Wahrheit zu sagen. Denn wir müssen ja ständig eine Geschichte hochhalten und alle Folgen mit bedenken. Das ist wahnsinnig kompliziert und energieaufwändig. Wenn ich das als eine Dauerkonstruktion im Leben wähle, ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass das irgendwann mal zusammenkracht. Und dann kann der Schaden größer sein, als wenn man mal die Wahrheit gesagt hätte.

Sie haben bereits Kant genannt als unbedingten Verfechter der Ehrlichkeit. Wie wär's denn, wenn alle immer bedingungslos ehrlich wären?

Ceming: Es gibt eine Bewegung, die sich "radical honesty” nennt. Sie geht davon aus, dass bedingungslose Ehrlichkeit das Allerbeste wäre. Allerdings setzen Menschen - und zwar kulturübergreifend - permanent kleine Lügen und soziale Komplimente im Alltag ein. Das zeigt womöglich, dass die radikale Wahrheit nicht das ist, was wir wollen. Oder anders formuliert: Dass wir die sozialen Lügen für die Lebens- und Alltagsbewältigung brauchen.

Ist radikale Wahrheit manchmal unsozial?

Ceming: Ja, richtig. Eine große menschliche Fähigkeit ist es, Situationen auf verschiedensten Ebenen zu lesen - das bezeichnet man als soziale Intelligenz. Manche können das besser, andere weniger gut. Wer über soziale Intelligenz verfügt, kann Kontexte mitberücksichtigen und sein Verhalten darauf anpassen. Wenn ich merke, dass mein Gegenüber in einer Krise steckt, muss ich vielleicht nicht unbedingt noch eine schlechte Botschaft draufpacken. Wer wie viel von welcher Wahrheit verträgt, ist eine Gratwanderung.

Gibt es für die Lüge eine Definition?

Ceming: Lügen ist, wenn man vorsätzlich etwas sagt, an das man selbst nicht glaubt. Wovon man bereits zum Zeitpunkt des Redens weiß, dass es nicht der Wahrheit entspricht.

Gibt es Situationen, in denen Lügen das Gebot der Stunde sind?

Ceming: Das kann man kategorisch nicht sagen. Es gibt es die Erzählung "Jakob der Lügner” von Jurek Becker. Jakob erzählt im Ghetto, er hätte im Radio gehört, das Ghetto werde befreit. Er tut das, um den Leuten Hoffnung zu machen - und natürlich erwächst die Hoffnung. Das Dumme ist nur: Es ist eine Lüge, und das wird halt irgendwann sehr komplex zu händeln. Trotzdem ist es vielleicht in manchen Situation gut, Menschen Kraft und Hoffnung zu geben, damit sie weitermachen können - und somit am Ende eine Veränderungen hervorbringen.

Was sagt die Philosophie dazu?

Ceming: Der Wahrheitsfundamentalist Kant sagt: Wenn man die Lüge einmal zulässt, kann man nie mehr darauf vertrauen, nicht dauernd belogen zu werden. Ihm zufolge müsste ein Mensch, der jemanden vor einem Verfolger in seinem Haus versteckt, diesem Verfolger wahrhaftig antworten, wenn der auf der Suche nach seinem Opfer an die Tür klopft. Zugleich muss er den Versteckten aber verteidigen, denn das verlang der kategorische Imperativ. Das ist natürlich völliger Irrsinn. Man stelle sich das nur in der jüngeren deutschen Geschichte vor. Jemand versteckt eine jüdische Familie und die Gestapo klopft an der Tür und fragt: Haben Sie jemanden versteckt? Und derjenige sagt: Ja, aber ich werde sie verteidigen. Da merkt man, wie absurd es ist.

Was sagen andere Philosophen?

Ceming: An Kant haben sich viele abgearbeitet. Schopenhauer überträgt das Prinzip der Notwehr auf Wahrheit und Lüge und sagt: Wenn jemand in einem Bereich Fragen stellt, der ihn überhaupt nichts angeht, und ich durch eine ausweichende oder keine Antwort schon den entscheidenden Hinweis geben würde, dann darf man lügen. Karl Jaspers, der geprägt war von der Zeit der NS-Diktatur, hat es noch weitergedacht. Er sagt: In einem System, in dem die Lüge und die Unmoral eigentlich zur Norm geworden sind, ist niemand verpflichtet, diesem System gegenüber wahrhaftig zu sein. Die Wahrheit ist also wichtig; aber ihr Kontext ist es auch.

Wenn alle dauernd lügen, warum ist dann die Wahrheit als Anspruch trotzdem so wichtig?

Ceming: Weil sie der Normzustand ist. Die Lüge ist der Parasit der Wahrheit. Wir können uns eine Welt ohne Lüge vorstellen, aber keine Welt ohne Wahrheit. Lüge ist also immer an die Wahrheit gebunden, die Wahrheit aber nicht an die Lüge. Rein binnenpsychologisch ist die Wahrheit die Standardeinstellung: Es kostet einfach viel weniger Energie, die Wahrheit zu sagen, weil wir nichts zusammenkonstruieren müssen. Denn gut zu lügen ist echt eine Kunst.

Wenn sich jemand zum neuen Jahr so etwas wie einen ehrlicheren Lebenswandel vornehmen würde: Womit könnte der anfangen?

Ceming: Indem er sich in jeder Situation, in der man sonst eine soziale Lüge gebraucht, überlegt, ob er nicht die Wahrheit sagen möchte oder wie er sie gut verpacken könnte. Dafür muss man sich aber erst mal wissen, wo man überall soziale Lügen einsetzt. Denn oft ist uns das gar nicht richtig bewusst.