Schwellenmoment

Achtung: Füße hoch! In den ersten Wochen im neuen Zuhause damals habe ich mir und meinen Kindern das immer wieder sagen müssen. Denn ständig sind wir gestolpert: Über die Türschwellen. Ich hatte noch nie zuvor in so einem alten Haus gewohnt. Vorher gab es nur ebenen Boden. 

Aber nun: Alte Holzschwellen auf dem Boden. In alten Häusern helfen sie, dass Lärm, Zugluft und Wasser draußen bleiben. Sie sind nicht besonders hoch. Nur einen Zentimeter vielleicht, aber eben hoch genug, dass wir uns in den ersten Wochen regelmäßig die Zehen angestoßen haben. Mittlerweile, ein paar Jahre später, ist das kein Problem mehr:  Mein Fuß weiß ganz von allein, wann ich ihn ein extra Stückchen heben muss, um ins andere Zimmer zu gelangen.

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser, ich erzähle Ihnen nicht einfach so etwas über die Schwellen in meinem Haus. Sondern weil sie mich in diesen Tagen an andere Schwellen erinnern. Solche, die mir nur ab und an begegnen. Lebensschwellen meine ich. Wie die Türschwellen bei mir im Haus ragen sie ein Stück heraus aus dem Alltag. Immer lassen sie mich kurz innehalten, ein winziges Stoppschild:

Nun geht’s von einem ins andere, von einem Lebenszimmer ins nächste.

Silvester-Gefühl – Im-Zwischen

Oder eben – vom alten Jahr ins neue. So wie jetzt gerade. Diese Tage sind für mich auch eine Schwelle. Das alte Jahr ist gefühlt eigentlich schon vorbei. Das Neue noch nicht da. Nicht umsonst nennen wir diese Zeit "Zwischen den Jahren", auch wenn es kalendarisch einfach nur ein paar Tage Ende Dezember sind. Sie sind besonders. Sie ragen heraus aus dem sonstigen Jahr.

Viele erleben sie als eine andere Zeit, oft schön, weil sie nicht ganz so rappelvoll gepackt sind mit Terminen. Die Kinder haben Ferien, Geschenke sind verschenkt, man kann Reste essen, in vielen Betrieben geht es ein bisschen langsamer zu. Das tut mal gut. Und zugleich spüre ich schon die leise Spannung, weil bald Neues beginnt.

Es ist, als würde ich einen Moment länger als gewöhnlich auf der Türschwelle im Haus stehen bleiben, weil ich nicht genau weiß, in welches Zimmer ich gehen will. Also kurz: Diese Zeit im Zwischen fühlt sich jedes Jahr außergewöhnlich an. Sie ist irgendwie mehr als bloßer Leerlauf. Ich drücke nicht nur die Pausentaste und warte darauf, dass es weitergeht. Irgendwas geschieht auf dieser Schwelle. Im Zwischen. Was mache ich mit dieser Zeit?

Viele Gemeinden feiern heute einen Gottesdienst, um genau diesen besonderen Übergang gemeinsam zu begehen. Dieses Lied, das Paul Gerhardt im 17. Jahrhundert für den Jahreswechsel gedichtet hat, gehört für mich unbedingt dazu.

Bis hierher hat uns Gott Kraft gegeben. Bis hierher. Was ist geschehen bis hierher? Mein Blick geht zurück auf das, was war. So wie bei den vielen Jahresrückblicken im Fernsehen oder in den Zeitungen. Immer wieder die Nachrichten des letzten Jahres: Der nicht endende Angriff auf die Ukraine, God save the King in England, Terror in Israel, politischer Abrutsch nach rechts in allen möglichen Ländern, aber Sieg der DemokratInnen in Polen, unser deutscher Haushalt geplatzt wie der Frauen-Fußball-WM-Traum, dafür sind wir Basketball-Weltmeister, der neue Asterix ist raus und wie immer wenig Erfreuliches vom Klima.

In die Ritzen der Weltnachrichten schieben sich meine persönlichen: Abschiede von Menschen. Mal wieder das ätzende Corona. Schulstress bei den Kindern, … was das Jahr so hergibt. Tiefpunkte waren das. Daneben schöne Highlights: Schwimmen im Lieblingssee, wunderbare Gottesdienste in meiner Gemeinde, die Zusage für eine berufliche Chance, neue Freundschaften, Lustiges.

Wir leben und gedeihen vom alten bis zum Neuen, heißt es in dem Lied zum Jahreswechsel. Zum Neuen gehen meine Gedanken auch in diesen Tagen. In die Zukunft. Was das nächste Jahr wohl bringt? Manches steht bei mir schon im Kalender. Ostern, die Herbstferien, einige extra geplante Termine: Das Treffen mit Freunden oder der erste Tag im neuen Job.

Ich spüre, dass meine Gedanken an das neue Jahr aber weniger an Terminen haften als am Gesamtgefühl: Wie wird das werden, dieses 2024? Werde ich schon wieder denken: Oh Gott, es geht tatsächlich immer noch schlimmer als im Jahr zuvor? Oder werde ich aufatmen und sagen können: Endlich geht mal was bergauf?

Im Zwischen dieser Jahre, auf der Schwelle gehe ich gedanklich zurück und voraus: Ich versuche, das Erlebte zu sortieren in Kopf und Herz, damit ich es zurücklassen kann. Und ich versuche, das Kommende wenigstens ein bisschen vor zu überlegen. Vielleicht, damit ich im Zweifelsfall nicht allzu kalt davon erwischt werde? Damit ich vorbereitet und gewappnet bin?

Rituale auf der Schwelle

Dafür, für die Gedanken an Vergangenheit und Zukunft ist diese Zwischen-Zeit schon einmal hilfreich.  Trotzdem glaube ich nicht, dass das alles ist. Diese Zeit hat ihre eigene Bedeutung jenseits von Zurückliegendem und Kommenden. Altes und Neues folgen nicht einfach nahtlos aufeinander. Es gibt ein Dazwischen. Auf einem Kalender mit Sinnsprüchen habe ich einmal gelesen:

"Aller Anfang ist schwer, aller Übergang noch viel mehr."

In meiner Gemeinde sind einige Seniorinnen und Senioren neu zugezogen. Sie haben den Schritt gemacht, ihr altes Zuhause verlassen und sind, meist wegen der Kinder, nach Fürth gezogen. Noch einmal etwas ganz Neues wagen. Und alle erzählen: Der Übergang braucht Zeit. Abschied nehmen, ganz praktisch und innerlich, sich neu orientieren. Überlegen: Was brauche ich für mein Leben am neuen Ort? Ich muss den Fuß heben. Innehalten

Was bei Übergängen hilft: Rituale. Mit ihnen kann ich solche Übergänge festlich werden lassen und erinnern. Rituale lassen die Seele ihre Füße ein Stück anheben, damit sie gut über die Schwelle kommt, damit sie das Alte zurücklassen und Mut zum Neuen finden kann.

Für wohl alle Lebensschwellen haben wir da etwas entwickelt: Da sind die Schultüten zwischen Kindergarten und Schule. Die versüßen den Weg. Abibälle, runde Geburtstage, Taufen. Für mich ganz wichtig: Trauerfeiern, bei denen wir mit Blumen und Kerzen, mit Tränen und Erzählungen den Verstorbenen ein letztes Geleit geben auf ihrem Weg vom irdischen zum ewigen Leben. Und die auch Angehörige begleiten auf der Schwelle, in ihrem Trauern.

Rituale helfen. Jetzt im Moment, zwischen den Jahren haben wir auch einige: Bestimmtes Essen, Dinner for one. Manchmal wollen wir auch mit dem Schicksal einen kleinen Deal machen, ihm vielleicht sogar ein bisschen auf die Sprünge helfen. Heute an Silvester versuche ich gern einmal, der Zukunft in die Karten zu schauen: In Knallbonbons stecken Zettel mit kleinen weltlichen Losungen. Mit Sinnsprüchen, die womöglich wie ein Motto über dem neuen Jahr stehen könnten.

Und dann das Bleigießen, das heute aus guten Nachhaltigkeitsgründen zum Wachsgießen geworden ist… Oh, ein Stier. Oder ist das doch eine Maus? Was die wohl für das neue Jahr bedeutet? Das ist natürlich alles mit einer Extraportion Augenzwinkern zu verstehen. Allerdings: Vermutlich kann ich da einiges über meine Hoffnungen und Wunschträume lernen, die ich in Sprüche und Wachsfiguren eben mehr hinein- als herauslese.

Vielleicht klammern wir uns so gern an solche Rituale, weil wir schon jetzt nach Sinn suchen, der wie ein guter Stern über dem Neuen aufleuchtet. Nur was mach ich, wenn ich ja eigentlich vor allem an eins fest glaube: Dass das eben Küchenmagie ist, aber eben auch nicht viel mehr als ein lustiger Zeitvertreib?

Biblische Geschichten von Schwellen – gesegnete Zeit

Ich suche nach Übergangsgeschichten meines Glaubens. Die vielleicht berühmteste biblische Erzählung dazu dürfte die von Moses und dem Volk Israel sein auf dem Weg aus der Sklaverei in Ägypten ins gelobte Land.

Da sprach Gott zu Mose und sagte:… Ich habe das Schreien der Leute von Israel gehört, die von den Ägyptern zur Arbeit gezwungen werden. Deshalb will ich jetzt meine Zusage einlösen. Richte deinem Volk aus: ›Ich bin der Herr! Ich werde euch aus dem Frondienst für die Ägypter wegholen und aus der Zwangsarbeit befreien, die sie euch auferlegt haben. Mit meinem ausgestreckten Arm werde ich euch retten und eure Unterdrücker hart bestrafen. 7Ich will euch als mein Volk annehmen und will euer Gott sein. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin, euer Gott, der euch aus dem Frondienst für die Ägypter befreit. 8Ich bringe euch in das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob mit einem Eid versprochen habe; (2. Mose 6,2a.5-8a)

Was nach einem kurzen Umzug klingt, entpuppt sich als schier ewige Wanderung. Die Bibel erzählt, es seien am Ende 40 Jahre gewesen. Zumindest jedenfalls: eine lange Zeit "im Zwischen". Eine sehr, sehr breite Schwelle im Leben der Israeliten, auf der sie ihre Füße lange heben mussten, um hinüberzukommen vom Alten ins Neue, von Ägypten in das verheißene Kanaan, wo Milch und Honig fließen sollte. 

Und so wundern die Menschen sich unterwegs und wüten – und wandern weiter. Sie trauern über das, was sie zurückgelassen haben. Vielleicht wäre all das doch im Zweifelsfall noch besser gewesen, als die ungewisse Zukunft. Aller Anfang ist schwer, der Übergang noch viel mehr. Was geschieht da? Was macht Gottes Volk in so einer Zwischenzeit?  Woran halten sich die Menschen fest?

Wachsgießen und Knallbonbons auf dem Weg in die Zukunft gab es ja noch nicht… Viel mitnehmen konnten sie nicht. Von vielem befreit sind sie da unterwegs. Befreit von dem Leben mit schwerem Sklavendienst in Ägypten. Ohne Ballast, aber eben auch das, was ihnen wieder Halt geben würde. Ohne neuen festen Boden unter den Füßen. Große Freiheit, große Offenheit – eine Leerstelle im Leben – so ist es im Übergang.

Und der Herr redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:
Der Herr segne dich und behüte dich der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.

Sie sind ohne großes Gepäck unterwegs. Viel kann man bei einer Flucht nicht mitnehmen. Mehr als das Allernötigste taugt nicht für so eine Wanderung durch die Wüste. Und so spüren sie nun auf dem Weg, ohne allen Ballast, den Platz. Ihr Leben auf der Schwelle lässt auf einmal extra Platz für anderes.

Dass er sich nicht wie eine schmerzhafte Lücke anfühlt, dafür sorgt Gott: Nehmt den Segen mit auf diesen Weg! Segnet die Menschen. Oder wie es da mit dem schönen Bild heißt: Sie sollen Gottes Namen auf die Menschen legen. Die Lücken werden bedeckt und gefüllt.

All das Gute, das Gott den Menschen zukommen lässt im Segen, legt sich in das Offene des Lebens. In die Leerstellen des Übergangs, An diesem Segen dürfen sie sich festhalten auf dem Weg. Der Segen füllt die Leere im Zwischen, wenn das Alte vergangen und das neue noch nicht angebrochen ist.

Die Geschichte vom wandernden Volk erzählt mir: Auf der Schwelle, zu den Zeiten, in denen wir auf besondere Art frei und offen sind, da sind wir sicher besonders verletzlich. Da ist Trauer über das Vergangene, das, was schön und schon vorbei ist. Und Trauer über das, was ungut und ungelöst geblieben ist.

In diesen Zeiten des Übergangs zweifeln wir öfter, sind unruhig und aufgeregt, weil Zukunft immer Ungewisses birgt. Ja, wir sind besonders dünnhäutig, aber wir sind gerade darum auch besonders offen für Gottes Segen.

Er ist nichts Magisches. Gottes Segen wischt das Vergangene nicht fort, muss nicht vermeintliche böse Geister mit Feuerwerkskrach vertreiben. Nein, anders. Gottes Segen wendet das Böse und Traurige. Auf meine Erfahrungen des letzten Jahres legt er sich tröstend. Alle entstandenen Lücken und Risse darf ich so von Gottes Frieden und Gerechtigkeit warm umfangen und heil werden lassen.

Ich kenne die Risse in meinem Leben und ich hoffe so, dass sich Gottes Segen auch in die furchtbar tiefen Risse in der Welt legt. Dass er sich heilend auf die Ukraine, auf Israel und Gaza legt. Überall dorthin, wo die Menschen ihr altes Leben vermissen und sehnlichst auf einen neuen Anfang warten.

Und nein: mit Gottes Segen kann ich auch nicht die Zukunft vorhersagen, wie mit den Sprüchen im Knallbonbon, oder an ihr herumschrauben. Vielmehr macht mich Gottes Segen mutig und stark und lässt mich beherzt auf das zugehen, was mir an Zukunft entgegenkommt. Die guten, aber auch die schweren Zeiten, die es geben wird.

Wenn ich gut über die Lebensschwellen kommen will, dann muss die Seele ihre Füße ein Stück heben. Sie muss es wagen, den alten Boden zu verlassen und den Moment im Zwischen auszuhalten. Ich lasse los, aber ich falle nicht.

Ich hoffe: Gottes Segen auf der Schwelle zum Neuen, in diesen Leerlauf hinein weist mir eine gute Richtung für das neue Jahr. Denn zwischen den Jahren ist auch die Zeit, in der mich innerlich schüttele, aufrichte und mich frage, wo meine Schritte herkommen und wo sie hingehen sollen.

Mich in dieser Zeit dem Segen besonders entgegenzustellen, heißt eben auch, mir eine gute Richtung geben zu lassen. Gottes Segen richtet mich aus. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Was ich draus mache, das liegt auch an mir. Ich will nicht vergessen, von wem der Segen kommt und was ich in Gottes Namen damit anfangen soll:

Dass ich davon weitergeben soll, in die Lücken der anderen und ihn nicht ängstlich für mich behalten. Gesegnet werden und Segen sein. Das gehört bei Gott zusammen.

Was Gottes Segen vermag, das kann ich nicht schöner sagen als Hanns Dieter Hüsch in seinem Psalm zum Segen:

Herr, auch heute habe ich Neues gefunden, um Dich zu loben

Wenn auch das Neue immer von Dir kommt und nicht von uns

Wie alles von Dir erfunden ist, was uns gut tut

Und überall sind Deine Augen, um uns zu prüfen,

ob wir Rechtes tun und ohne Arg sind,

ob wir uns dem Himmel nähern und Deine Kinder werden

Ich weiß schon, daß Du uns durchschaust

und uns von allen Seiten umschließt

und Deine Hand auf uns legst

Du warst dabei, als unsere Glieder noch geformt wurden

und wir im Dunkeln lebten

Du bist dabei, wenn uns heute Leid überkommt und Trauer

wenn wir verraten werden

Du wirst bei uns sein, wenn wir die Tage zählen

und hast uns doch im Leben so viel Schönheit gezeigt

So viel Ermutigendes, hast uns Träume gemacht, Wünsche erfüllt

und Glück geschenkt durch deine Nähe

Wir aber sind nichts ohne Dich

Kein Herz, kein Himmel, keine Erde sind ohne Dich denkbar

Wir glauben an Dich, loben und lieben Dich

Wir kommen von Dir und gehen zu Dir

Der Himmel ist in uns durch Deine Gnade

Halleluja![1]

Liebe Leserinnen und Leser, mögen Sie diese Zeit auf der Schwelle vom alten ins neue Jahr als ein Geschenk von ganz besonderer Zeit erleben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Offenheit und die Leere dieses Übergangs nicht fürchten, sondern hoffnungsfroh hinnehmen. Denn genau dort öffnet sich Raum für Gottes Segen. Wenn wir vom alten Jahr Abschied nehmen, wird sich der Segen wie der Himmel über unser Land und über unser Leben wölben und uns spüren lassen: Wir alle, wir Brüder und Schwestern ruhen in Gottes Hand.


[1] Hanns Dieter Hüsch: "Psalm 139", in: Hanns Dieter Hüsch / Uwe Seidel: "Ich stehe unter Gottes Schutz: Psalmen für alle Tage", Düsseldorf 2014.

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