Nach der Wende war viel vom Zusammenwachsen die Rede. "Damit zusammenwächst, was zusammengehört." Darin kam der Wunsch nach politischer Einheit des lange in Ost und West gespaltenen Deutschlands zum Ausdruck. Deutschland sollte wieder eins sein.
Wunsch nach Einheit tief verankert
Der Wunsch nach Einheit ist tief in uns verankert. Wir wollen als Individuum mit uns selbst eins sein, wir wollen mit dem Partner und der Familie eins sein, wir wollen mit unserem Freundeskreis eins sein, wir wollen mit den sozialen Gruppen, in denen wir uns bewegen, eins sein. In dem Wunsch nach Einheit äußert sich die Sehnsucht nach dem unbeeinträchtigten Urzustand, der Ruhe und Geborgenheit verspricht und der sich doch in dieser Welt der Abgrenzung, der Konfrontation und der Auseinandersetzungen nie dauerhaft und vollständig realisieren lässt.
Das Zusammenwachsen getrennter Teile verursacht Mühen und vielleicht auch Schmerzen. Bei Verletzungen hat das jeder Mensch bereits erfahren. Bei sozialen Einheiten gilt das gleichermaßen, wie das geteilte und wiedervereinte Deutschland zeigt. Niemand kann garantieren, dass die Teile nicht wieder auseinanderbrechen, dass Nahtstellen nicht wieder aufgehen und dass Narben nicht schmerzen.
Fragen von Gemeinschaft und Einheit
Wie entsteht in sozialer Hinsicht Einheit und Gemeinschaft? Wann ist Einheit hergestellt, wie wird sie bewahrt und wann ist sie wieder verloren? In unserer digitalen Gesellschaft, die den Individualismus und die Singularität in den Vordergrund stellt, kommt diesen Fragen eine besondere Bedeutung zu. Groß ist die Versuchung, in der digitalisierten Welt die Anzahl der "Likes" bereits als einen Indikator von Einheit zu nehmen.
Mit einem "Like" wird Übereinstimmung signalisiert. Wer nicht zustimmt oder gar eine andere Auffassung vertritt, gehört einfach nicht dazu. Diese Form der Einheit steht auf tönernen Füßen. Wer die Kommunikationsblase bereits als Einheit interpretiert, lässt sich von der digitalen Welt eine Illusion vorgaukeln, aus der es ein jähes Erwachen gibt. Blasen platzen bekanntlich schnell.
Einheit braucht feste Basis
Eine verlässliche Einheit benötigt demgegenüber eine feste Basis. Einheit will immer wieder neu und dauerhaft erfahren werden. Die Wahrnehmung von Einheit ist eine kognitive Leistung. Es sind geistige Konstrukte, Ideen und Konzepte, die uns verbinden und die Einheit herstellen: die Anhängerschaft zu einem Fußballverein, die Liebe zu Musik oder Literatur, die Zugehörigkeit zu einer Partei, die Idee einer Nation oder der gemeinsame religiöse Glaube.
Ohne Aufwand und ohne Mühe realisiert sich die soziale Einheit nicht. Die einheitsstiftenden Ideen müssen gerade in der pluralen Welt immer wieder gepflegt und erneuert werden. Dazu dienen Rituale, Symbole, Mythen und Überlieferungen. Trotz allem machen wir die Erfahrung, dass die Grundlagen der Einheit nicht stark genug sind, um uns dauerhaft zu tragen. Der Lieblingsverein steigt ab und der Fanclub löst sich auf, die Partei gibt sich ein neues Programm, der Freundeskreis zerbricht. Zurück bleiben Enttäuschung, Orientierungslosigkeit und Desillusionierung.
Der Glaube liefert Antworten
Wie finden wir heraus, welche Gemeinschaften den Auseinandersetzungen und den Konflikten, die das Leben mit sich bringt, standhalten? Welche helfen uns über kritische Phasen hinweg und bewahren uns das Gefühl der Einheit? Auf diese Fragen bietet der Glaube eine Antwort, weil er die Einheit auf einer anderen Grundlage verankert als in den vergänglichen Ideen dieser Welt. Die Öffnung für das Überirdische, das Wagnis der Transzendenz, schafft eine geistige und geistliche Dimension, die eine beständige Erfahrung von Einheit möglich macht.
Nur über die Ebene einer höheren Vernunft, die uns zugänglich ist und in der wir gründen, kann die Erfahrung von Einheit auf eine unverbrüchliche Basis gestellt werden. Diese Erfahrung macht die Faszination des Glaubens aus, auch wenn wir das nicht immer spüren oder erleben. Deshalb sprechen wir Christen vom Heiligen Geist, der uns genau diese Tiefe unserer Gemeinschaft ermöglicht und schenkt.
(Oberkirchenrat Nikolaus Blum ist Mitglied des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Leiter des Landeskirchenamtes in München)