Die Kirchen in Deutschland ringen um eine Position, wie ein Ende des Krieges in der Ukraine zu erreichen ist. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, sprach sich für Verhandlungen aus. Die ehemalige EKD-Präsides Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Irmgard Schwaetzer (FDP) sowie die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr hingegen kritisierten, wer für Verhandlungen argumentiere, befördere die Unterwerfung der Ukraine unter einen brutalen Aggressor.

Regionalbischöfin Bahr widerspricht Käßmann

Keinen Widerspruch zwischen Waffenlieferungen und Gesprächen sehen die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und der Vorsitzende der Deutschen Kommission "Justitia et Pax", der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer.

Käßmann sagte in einem Streitgespräch mit Bahr in der Wochenzeitung "Die Zeit", es verstöre den Angreifer, wenn der Angegriffene die andere Wange hinhalte, weil er das nicht erwarte. So zwinge man den Aggressor, aus der Logik des Kriegs herauszutreten. Nur so werde die Gewaltspirale unterbrochen.

Bahr, die Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, entgegnete, sie fände zwar Pazifismus beeindruckend - als Haltung gegenüber selbst erlebter Gewalt. Man könne sie aber nicht anderen auferlegen. Das "Manifest für den Frieden", das die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Publizistin Alice Schwarzer mit Blick auf den Jahrestag des russischen Angriffs am 24. Februar initiiert hatten und zu deren Erstunterzeichnerinnen Käßmann gehört, nannte Bahr ein "Manifest der Unterwerfung". Es gehe darin nur um deutsche Befindlichkeiten:

"Der Aggressor wird gar nicht adressiert, Kriegsverbrechen und der Überlebenskampf der Ukrainer werden hintangestellt."

Pazifismus funktioniert bei Putin nicht

Die Politikerinnen Göring-Eckardt und Schwaetzer warnten, Pazifismus funktioniere bei Putin nicht. In einem Gastbeitrag in der "Welt" (Mittwoch) schrieben die beiden Frauen, die in der Vergangenheit jeweils an der Spitze der EKD-Synode standen: "Wer Putin nicht Einhalt gebietet, ermuntert ihn, seine völkerrechtswidrigen imperialistischen Fantasien weiterzutreiben." Waffenunterstützung schaffe in diesem Falle Freiheit und begrenze das furchtbare Leiden:

"Das christliche Gebot der Sorge und Mitverantwortung für die Nächsten, für den unter die Räuber Gefallenen, erlaubt, ja, verpflichtet uns, der Ukraine zu helfen, wenn Menschen von Russland ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden."

Auch die EKD-Ratsvorsitzende Kurschus kritisierte einen bedingungslosen Pazifismus. Rechtserhaltende Gewalt sei gemäß der Friedensethik unter bestimmten Bedingungen legitim, sagte die westfälische Präses der "Berliner Zeitung" (Mittwoch): "Wir können die Angegriffenen ja nicht schutzlos lassen, wenn sie mit Raketen beschossen, ihres Landes beraubt, vergewaltigt und verschleppt werden." Kurschus betonte, Waffen und Verhandlungen schlössen einander nicht aus. Waffeneinsatz müsse aber "zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen".

Kirche will Denkschrift zu Friedensethik überprüfen

Im November 2022 beschloss das Kirchenparlament der EKD daher, die bis dato jüngste Denkschrift der EKD zur Friedensethik aus dem Jahr 2007 zu überprüfen. Ein neues Gremium, die sogenannte Friedenswerkstatt, soll bis 2025 einen neuen Grundlagentext erarbeiten. Das Gremium traf sich erstmals im Januar in Berlin. Offen ist bislang, ob der neue Grundlagentext eine Erweiterung der Friedensdenkschrift wird oder doch in eine gänzliche Neufassung mündet. Beobachter der Debatte wie der Wiener Theologe Ulrich Körtner haben immer wieder eine Überarbeitung gefordert.

Die Denkschrift "Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen" entstand unter maßgeblicher Initiative des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden, des Theologen und Sozialethikers Wolfgang Huber. Das Konzept des "gerechten Friedens" ist zentraler Gedanke und Ausdruck eines "Verantwortungspazifismus", wie es Huber bezeichnet. Die Denkschrift stellt klar, dass zur Wahrung und Wiederherstellung des Rechts auch der Einsatz militärischer Gewalt ethisch legitimierbar ist, militärische Mittel seien aber nur als ultima ratio einzusetzen. Es gelte der Primat der friedlichen Konfliktlösung. Dadurch versuchte der Text die seit jeher widerstreitenden Positionen der prinzipiellen Pazifisten und die der Verantwortungspazifisten, kurz gesprochen: die der Käßmanns und die der Bahrs, zu harmonisieren.

EKD-Spitze uneins: Wie viel Pazifismus ist angebracht?

Huber ist auch heute davon überzeugt, dass die Denkschrift nicht ausgedient hat. Der 80-Jährige betonte im vergangenen Sommer im Gespräch mit dem epd, zwar sei der Vorbildcharakter einer persönlichen Entscheidung zur Gewaltlosigkeit zu respektieren, diese Gewaltlosigkeit zur unumstößlichen Maxime eines ganzen Landes zu machen, heiße aber gegebenenfalls, nicht nur für sich, sondern auch für andere auf das Selbstverteidigungsrecht zu verzichten. Die Alternative zur Gewaltfreiheit sei nicht Nichtstun, betonte Huber.

In der Spitze der EKD ist man sich jedoch nicht einig, wie viel Pazifismus in der gegenwärtigen Diskussion um Waffenlieferungen in die Ukraine angebracht ist, ohne zynisch zu wirken. Während der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer kaum eine Chance auslässt, sich gegen Waffenlieferungen zu positionieren, betont die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und unterstützt Waffenlieferungen - wenngleich mit Unbehagen.

Theologe: Ethik an geopolitischen Realitäten ausrichten

Der Theologe Körtner fordert, die Friedensethik müsse sich viel stärker an den geopolitischen Realitäten ausrichten. Die Denkschrift habe etwa die Macht des Völkerrechts überschätzt. Am russischen Angriff der Ukraine sehe man, dass das Völkerrecht nur dann funktioniere, wenn es von allen Staaten anerkannt werde. Die Denkschrift beantworte die Frage nicht, was geschehe, wenn das Völkerrecht nicht durchsetzbar ist.

"Die Sprachregelung, allenfalls von rechtserhaltender Gewalt im Rahmen von UN-Mandaten zu sprechen, hat zu einseitig auf die Vereinten Nationen gesetzt und die realpolitischen Schwächen des Völkerrechts nicht genügend bedacht."

Körtner sieht es daher als nötig an, die evangelische Friedensethik einer Generalüberholung zu unterziehen.

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