Vor einigen Jahren hat der Spoken Word Künstler Sebastian 23 einen Text geschrieben, in dem er sich vorstellt, wie die Welt wäre, wenn alles einfach wäre. Es scheint, als hätten Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer mit ihrer Petition "Manifest für den Frieden", die inzwischen auch Margot Käßmann und der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla unterschrieben haben, einen neuen Aufschlag zum Thema gemacht.

Ihr Text könnte auch heißen: "Frieden – wenn alles einfach wäre". Leidvolle menschliche Erfahrung ist allerdings: Trotz aller Sehnsucht nach einem "einfachen Frieden" ist meistens eben nicht alles einfach, oft ist es sogar sehr komplex. Die Logik des Manifests "Waffenlieferungen = Krieg; keine Waffenlieferung = Frieden" ist so einfach wie falsch.

Die Realität ist komplexer und es gibt komplexe Situationen, da kommt man nicht mit sauberen Händen raus.

Die Autorinnen des Manifestes möchten die Eskalation des Krieges stoppen und wenden sich damit an Bundeskanzler Scholz. Damit sind sie aber ein Jahr zu spät und den falschen Adressaten haben sie auch, denn: Die Eskalation begann am 24. Februar 2022 mit Russlands unprovoziertem Überfall auf ein Nachbarland, nicht mit der Lieferung deutscher Panzer zur Selbstverteidigung der Ukraine.

Schluss mit der Unterstützung der Ukraine?

Die Eskalation ist sofort zu Ende, wenn Russland seinen Krieg beendet, nicht, wenn der Westen aufhört, der Ukraine Waffen zu liefern, denn dann wird Russland die Ukraine Stadt für Stadt erobern. Die Ukraine nicht mehr bei der Selbstverteidigung zu unterstützen, wie es das Manifest fordert, hilft genau zwei Parteien. Uns, weil wir sagen könnten, dass wir uns die Hände nicht mit Waffenlieferungen schmutzig gemacht haben. Und dem Putin-Regime, da die Ukraine so zur leichten Beute würde.

Der angegriffenen Partei, die weder über die Militärmacht Russlands verfügt, noch – wie wir – unter dem Schutz der NATO steht, hilft es nicht. Das Ende militärischer Unterstützung der Ukraine würde bedeuten, dass der Schwächste verliert.

Der Schwächste verliert

Was dieses Verlieren bedeuten würde, haben wir in den Orten gesehen, die von der Ukraine wieder zurückerobert wurden. Es bedeutet Folterkeller in Häusern, nach Russland zu Umerziehung deportierte Kinder, militärische Willkürherrschaft und das Grauen, das für immer mit dem Namen Butscha verbunden sein wird.

Alle, die den Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterschreiben, sollten gleichzeitig diese Klausel mitunterschreiben: "Alles oben Genannte nehme ich billigend in Kauf."

Das Manifest ist die moralische Selbstbefriedigung einiger Deutscher, die unter dem Schutz der NATO leben, auf Kosten der Ukrainerinnen und Ukrainer, die dieses Privileg nicht haben.

Die Petition "Manifest für den Frieden"

Eine von der Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer gestartete Petition namens "Manifest für Frieden" hat den Streit um Waffenlieferungen an die Ukraine neu entfacht. Sie fordert einen sofortigen Stopp der militärischen Unterstützung sowie einen Waffenstillstand. Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, gehört neben anderen bekannten Persönlichkeiten zu den Erstunterzeichnerinnen des auf der Petitionsplattform change.org veröffentlichten Begehrens. In einem persönlichen Gastbeitrag erklärte sie Ihre Unterstützung.

In der Petition heißt es unter anderem: "Die Ukraine kann zwar - unterstützt durch den Westen - einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen." Zu den Erstunterzeichnenden gehören neben den Initiatorinnen und Käßmann Journalist*innen wie Franz Alt, Schauspieler*innen wie Katharina Thalbach, der CSU-Politiker Peter Gauweiler, der SPD-Politiker Günter Verheugen, die Grünen-Politikerin Antje Vollmer und Musiker*innen wie Reinhard Mey.

Widerspruch kam unter anderem vom ukrainischen Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev. "Wir wollen den Krieg gegen Riesen-Russland gewinnen", sagte der Diplomat im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Skeptisch äußerte sich Makeiev zu möglichen Friedensgesprächen. Er wolle zwar Frieden, aber "Frieden muss erkämpft werden", unterstrich der Botschafter.

Kritik kam auch von Petra Bahr, Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Sie schrieb auf Twitter: "Die unfassbaren Kriegsverbrechen und die brutalste Umsetzung lang angekündigter imperialer Fantasien vor aller Augen verbieten es mir als Christin, meine Sehnsucht nach Frieden rücksichtslos vor das Leid der Menschen in der Ukraine zu stellen." (epd)

Mit wem verhandeln, wenn Russland nicht will?

Der Ruf nach Friedensverhandlungen ist ja nicht falsch. Jeder würde sich doch Frieden wünschen, die Ukrainer, die immer wieder um Waffen bitten, doch als Allererste! Wenn Frieden herbei gewünscht werden könnte, dann wäre er schon da. Aber der Wunsch nach Frieden darf nicht zu einer Realitätsverweigerung führen.

Wladimir Putin hat derzeit kein Interesse an Verhandlungen. Er hofft und wünscht sich noch, dass seine Armee diesen Krieg gewinnen kann. Die Vereinten Nationen, die vermitteln könnten und auf die auch die Friedensethik der EKD setzt, sind seit Jahren gelähmt von einem Weltsicherheitsrat, der sich gegenseitig mit Vetos blockiert. Und die Verurteilung des Angriffskriegs durch die überwältigende Mehrheit der Staaten in der UN-Generalversammlung hat Russland genauso wenig zur Aufnahme von Verhandlungen bewegt, wie die Wirtschaftssanktionen, die gegen den Staat verhängt wurden.

Eine Logik der Stärke

Es gibt ein Gebot, dass man vor einer Eskalation die milderen Mittel wählen muss. Man kann den Unterstützern der Ukraine allerdings nicht vorwerfen, dass diese Versuche nicht gemacht worden wären. Aber Präsident Putin hört nicht auf Milde. Seine Logik ist durch und durch die Logik der Stärke.

Das Narrativ, das die russische Regierung für ihre "Militäroperation" gewählt hat, ist das der "Entnazifizierung" der Ukraine. Nazi, das steht in Russland, wie bei uns, für das ultimativ Böse. Mit einem Gegner kann man verhandeln, Kompromisse schließen – aber nicht mit dem ultimativ Bösen. Mit Nazis kann man keine Kompromisse machen, man kann sie nur besiegen, wie die Alliierten im 2. Weltkrieg. Dass in Russland so argumentiert wird, verrät viel über den Verhandlungsspielraum, der in Moskau gesehen wird.

Einem autoritären Staat, dessen Führung erobern will, kommt man mit dem puren Wunsch nach Friedensverhandlungen nicht bei.

Fantasie für den Frieden

An anderen Stellen hat die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann immer wieder mehr Fantasie für den Frieden gefordert. Ich fand das damals richtig, und würde das auch heute voll unterschreiben. Der weite Blick der Fantasie weist uns auf Wege, die wir nicht sehen können, wenn wir immer nur den Blick nach unten auf unsere Füße halten. Das Militärische darf nie und erst recht nicht auf Dauer die einzige Antwort bleiben.

Ein Architekt, der viel Fantasie hat, kann Großartiges zustande bringen. Aber wenn er mit seiner Fantasie keine Rücksicht auf die Gesetze der Physik und Statik nimmt, werden seine Gebäude in sich zusammenfallen.

Fantasie muss nicht von dieser Welt sein, aber wenn sie in dieser Welt etwas gestalten will, muss sie mit den Realitäten dieser Welt arbeiten.

Wofür es wenig Fantasie braucht, ist vorherzusehen, was passiert, wenn die Ukraine keine Unterstützung bei der Selbstverteidigung mehr erhält. Sie wird von der Landkarte gestrichen, mit allem, was das für die Menschen dort an Gewalt bedeutet.

Die Option für die Opfer

Bei allen Bibelzitaten, die Margot Käßmann in ihrem Gastbeitrag, in dem sie ihre Unterstützung des "Manifestes für Frieden" erläutert, nennt, gibt es keine biblische Blaupause für diese Situation. Friedensvisionen ziehen sich durch die Bibel – genauso wie die Erfahrung, dass Krieg das Volk Israel heimsucht. Allen Friedensvisionen ist gemein, dass sie nicht allein auf Menschen setzen. Denn die Bibel weiß sehr genau, dass es immer Menschen wie Putin gibt. Sie setzen darauf, dass Gott diese Visionen wahr machen wird, wo Menschen versagen. Ist das Vertröstung oder Hoffnung? Vielleicht ist es immer beides.

Ein weiteres Grundmotiv der Bibel ist der Schutz der Schwächsten (z.B. Jer. 7,6), derer, die "unter die Räuber gefallen" sind (Lk. 10, 25f.). Wer nur zusieht und nicht handelt, um die Opfer zu schützen, verbündet sich de facto mit den Tätern.

Wir kommen nicht einfach und nicht moralisch sauber aus dieser Situation raus.

Waffen liefern schafft Tod und Unrecht und die Ukraine sich selbst zu überlassen und zuschauen schafft auch Tod und Unrecht. Vor diese Wahl gestellt, möchte ich aber lieber dabei schuldig werden, den Opfern, den Überfallenen zu helfen, als dem Aggressor den Weg freizumachen.

Am Ende werden wir uns wohl für beides vor Gott verantworten müssen. 

Kommentare

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VOIT-Orgel am So, 26.02.2023 - 22:17 Link

Ein Staat,ein Land, das fast doppelt so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, sollte doch das Recht haben, selbst über seine Schicke zu entscheiden.
Seit 2 Monaten erlebe ich hinsichtlich der verbreherischenInvasion Russlands eine derartige mediale inkompetente und faktenfreie Einflussnahme, wie siein meinen 70 Jahren noch nie in diesem meinen Land je erlebt habe. Allein die photographische Berichterstattung in der BRD und z.b. in der NewYorkTimes weichen derart extrem voneinander ab, wie ich es nie mir hättevorstellen können.D.h. wer seit Beginn der russischen Invasion die NYtimes Photography sehen konnte, hat ein komplett drastischeres, umfangreicheres und wahrheitsgetreueres Bild der Invasion erhalten. Die verbrecherische Wahrheit des Krieges wurde und wird vom deutschen Bürger / von der deutschen Bürgerin derart ferngehalten - außer Katrin Eigendorf - dass eine komplett andere Einschätzung der Lage der ukrainischen Bevölkerung zu beobachten ist. Das NYTimes-digital-Abo kostet übrigens 3,-Euro pro Monat!!!

Theodor Ziegler am So, 26.02.2023 - 19:20 Link

Werter Herr Henkel, Sie übersehen, dass die Gräuel von Butscha im Gefolge der beiderseitigen Kriegshandlungen, die ja auch schon schlimmste Verbrechen sind, verübt werden. Das ist Kriegsrealität - überall. Zum Kriegführen braucht man einen Angreifer UND auch einen Verteidiger. Gibt es den nicht, kommt es maximal zu einer Okkupation, für die Ziviler Widerstand das Mittel der Verteidigung sein kann. Bisher sind im Verteidigungskrieg über 200.000 Todesopfer zu beklagen und eine billionteure Zerstörung von Häusern und Infrastruktur die Folge.
Aus 1. Kö 3,16 ff können Sie eine der von Ihnen gewünschten Blaupausen im Konflikt zwischen Souveränitätsschutz und Lebensschutz ersehen. Souveränität ist sehr wichtig, Leben ist noch wichtiger. Verlorene Souveränität kann nach Jahr(zeht)en wiedererlangt werden (siehe Tschechoslowakei 1968-1989), verlorenes Leben leider nie. Die Ukrainische Pazifistische Bewegung lehnt aus diesen Gründen auch den Verteidigungskrieg als das viel schlimmere Übel ab.
Wäre eine andere biblische Weisung - Mt 7,12 - seitens der Bundesregierung, Nato und auch der EKD nach 1989 beachtet worden, wäre es wohl nie zu diesem Krieg gekommen.

Engel am So, 26.02.2023 - 14:11 Link

Viele salbungsvolle Worte, bestechende Wortakrobatik und Logik. Tolle Story. Leider hat sie einen gravierenden Haken. Sie erinnert fatal an sämtliche Begründungen zu allen Zeit der Menschheit um jedweden immer geführten Krieg zu führen und zu rechtfertigen. Die Begründungen sind vollkommen beliebig, austauschbar und ließen sich endlos fortführen. Man kann sich dabei herrlich in heiliger Selbstgerechtigkeit suhlen. Eines ist klar: Würde Jesus heute noch leben, würde er Pfarrer Kennedy, der vorgibt, im Namen des Herrn zu sprechen, ordentlich die Leviten lesen.

MartinW61 am Mo, 20.02.2023 - 22:19 Link

Das nicht zu widerlegende Argument ist die angeführte Ungleichung: „Waffenlieferungen = Krieg“ heißt auch zu meinem größten Bedauern eben nicht im Umkehrschluss: „keine Waffenlieferungen = Frieden“. Vielen Dank für den nicht leicht gemachten, dafür überzeugend christlichen Gastbeitrag!

Engel am So, 26.02.2023 - 14:23 Link

Ich hoffe Ihnen ist wenigstens klar, dass Sie selbst auf diesen uralten Propagandatrick hereinfallen und sich dessen bedienen. Niemand der die Forderung nach Waffenstopps stellt, am allerwenigsten Sahra Wagenknecht, folgt dieser Logik die Sie haupten. Waffenstopp ist vielmehr eine Voraussetzung dafür, das überhaupt Friedensoptionen verhandelt werden könnte. Wäre es anders, würden Waffenruhen gleichwohl in welchem Konflikt auf dieser Erde, grundsätzlich keinen Sinn machen.
Ihre Argumentation ist darum unseriös, weil sie einer Logik folgt, der die Waffenruhe/stopp Fordernden selbst nicht folgen.
Manipulationsmethode/Framing: Widerlege Behauptungen die niemals getätigt wurden und suggeriere so den Bahauptenden widerlegt zu haben. Funktioniert bei vielen Menschen leider allzuoft hervorragend.
Diese Propagandamethode ist keineswegs "christlich" sondern im Gegenteil ziemlich teuflisch, weil sie Menschen irreleitet und andere der Lächerlichkeit preis gibt. Und einen selbst in moralisch erhabenen Stand zu erheben versucht.