"Wie weit darf ich gehen?"

Das fragte sich Annette Mehlhorn in den vergangenen Jahren sehr häufig. Als sie 2013 zur Deutschsprachigen Christlichen Gemeinde Shanghai (DCGS) kam, tat sie das offiziell als "interkulturelle Projektmanagerin". Bei der Arbeitsgenehmigung half ihr das Hamburg Liaison Office China, das im Rahmen der 1986 geschlossenen Städtepartnerschaft Hamburg- Shanghai gute Verbindungen zu den politisch Verantwortlichen in der Stadt pflegt.

Religionen stehen unter staatlicher Kontrolle

In China gibt es offiziell anerkannte Religionen, dazu gehören der Daoismus, der Buddhismus, der Islam sowie das katholische und evangelische Christentum. Sie sind in staatliche Strukturen integriert und stehen unter der Kontrolle der Religionsbehörde. Alle religiösen Gruppierungen und Gemeinden außerhalb der staatlich kontrollierten Verbände agieren mehr oder weniger im Untergrund. Ausländische Pfarrer und Pfarrerinnen sind bei der Dachorganisation der evangelischen oder katholischen Kirche akkreditiert, auch wenn sie ihr Arbeitsvisum unter einem anderen Berufstitel bekommen.

Typisch für die Shanghaier Gemeinde sei die ständige Fluktuation, sagt Mehlhorn. Die meisten deutschsprachigen christlichen Familien kämen für zwei bis fünf Jahre in das riesige asiatische Land. Die Gemeinde sei "ein Notanker in schwierigen Lebenslagen", und zwar für alle, unabhängig von ihrer konfessionellen Bindung, erzählt die Pfarrerin, die seit August als theologische Referentin der stellvertretenden hessen-nassauischen Kirchenpräsidentin Ulrike Scherf in Darmstadt arbeitet. Die Kirche dort stehe für alles, für sämtliche Hilfsangebote, für Beratung und Lebenshilfe.

Ökumenisches Gespann

Der katholische Pfarrer ist in der Shanghaier Gemeinde schon seit 2004 aktiv. Mit ihm bildete Annette Mehlhorn ein "ökumenisches Gespann", wie sie sagt. Die beiden Dachverbände der Kirchen haben sich mit dieser ökumenischen Gemeindestruktur arrangiert. "Es gibt uns, weil es uns nicht gibt", bringt die 64-jährige Pfarrerin diese besondere Konstellation auf den Punkt.

In ihrer Shanghaier Zeit sei es nicht immer einfach gewesen, an manchen Stellen habe es heftig geruckelt, sagt Mehlhorn, zum Beispiel beim gemeinsamen Abendmahl. "Ich empfinde es schon als sehr schmerzhaft, mit einem Kollegen als Hirtenteam diese Gemeinde zu leiten, der nicht bereit ist, aus meinen Händen das Abendmahl zu empfangen", bekennt sie in einem Videofilm, der die Gemeinde porträtiert.

Während Corona enger zusammengerückt

Die frühere Studienleiterin der Evangelischen Akademie Arnoldshain findet es wichtig, diesen Riss zu benennen. Für sie ist es der Tisch Christi und nicht der der Kirche, "und deshalb können wir an diesem Tisch zusammenstehen". In der Corona-Krise seien Bauer und sie selbst, aber auch die Mitglieder Gemeinde enger zusammengerückt. Viele Menschen in Shanghai hätten die Angebote der Gemeinde genutzt, auch solche, die mit Kirche nichts am Hut hätten.

Der erste Lockdown 2020 sei hart gewesen, aber nicht allumfassend. Lieferdienste durften weiter Lebensmittel bringen, U-Bahnen und Taxen weiter fahren. Die Menschen sollten zu Hause bleiben, konnten ihre Wohnung aber ohne Probleme verlassen. Die Gemeinde habe seit Februar 2020 sonntäglich Gottesdienste gefeiert in ökumenischer Gemeinschaft, abwechselnd mit evangelischem Abendmahl oder mit katholischer Eucharistie.

Totaler Hausarrest im April 2022

Der Lockdown im April 2022 sei hingegen komplett anders gelaufen. Er sei schleichend gekommen, die Menschen seien unvorbereitet hineingestolpert. Es habe sich um einen totalen Hausarrest gehandelt, in voller Härte und Länge. "Der öffentliche Verkehr kam komplett zum Erliegen. Die Versorgung mit Lebensmitteln war zunächst außer für besonders vernetzte Menschen fast ausschließlich durch Gnadengaben der Regierung möglich", berichtet Mehlhorn.

Infizierte Menschen hätten Bett an Bett in Messehallen kampieren müssen. Die Gemeinde habe aus der Not eine Tugend gemacht und neue Online-Formate entwickelt.

"Unsere Gottesdienste wurden bunter, vielfältiger, die Mitwirkung engagierter und fantasievoller",

erinnert sich Mehlhorn. Sie selbst habe in einem Hochhaus gewohnt und ihre Wohnung nur ausnahmsweise verlassen dürfen.

Chinas Tor zur Welt

Bei ihrer Ankunft 2013 sei Shanghai "Chinas Tor zur Welt" gewesen und habe einen "besonders freien Geist geatmet, verbunden mit der Bereitschaft zur Integration sehr unterschiedlicher kultureller Besonderheiten", sagt Mehlhorn. "Der Brückenbau zwischen Ost und West gehörte selbstverständlich dazu." Die Zeit bis zur Pandemie habe sie denn auch als eine Phase großer Freiheit erlebt mit weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten.

Nun aber liege eine dunkle Wolke über der Stadt. Was die Menschen dort jetzt vor allem bräuchten, seien verstärkte Bemühungen um gute Beziehungen in alle Welt. Sie seien auch "angesichts der aktuellen globalen Gemengelage dringend vonnöten", findet Annette Mehlhorn.