Fritz Blanz, Diakon und Sozialpädagoge, war zehn Jahre lang in der europäischen Conviviality-Gruppe des Lutherischen Weltbundes tätig. Er arbeitete als Referent im Diakonischen Werk Bayern und leitete die Clearingstelle Nordbayern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und die Lehren, die er daraus gezogen hat, gesprochen. 

"Ich bin davon überzeugt bin, dass Gott mit uns noch etwas erreichen will. "

Herr Blanz, Ihr Buch liest sich als ein großes Fazit nach einem langen Berufsleben in der Kirche, aber ein hoffnungsvolles. Würden Sie das so unterschreiben?

Fritz Blanz: Ja, es ist in der Tat ein Fazit und vor allem die Weiterführung visionärer Gedanken, die mein Berufsleben immer begleiteten. Das ist mir wichtig, weil das Buch Impulse für ein gutes Miteinander setzen will, die an möglichst vielen Orten weitergedacht werden können – gerne auch ohne mich, aber im ständigen Ringen um gute Lösungen. Ebenso ist das Buch von einer Hoffnungsperspektive im Sinne Ernst Bloch getragen, die Möglichkeiten auslotet, über konventionelle Grenzen hinaus denkt und visionäre Lichtblicke zulässt. 

Ich bin davon überzeugt bin, dass Gott mit uns noch etwas erreichen will. Nicht zuletzt deswegen ist Hoffnung ja eine Grundtugend christlicher Überzeugung. Protestanten bewahren sich eine Gegenkultur zu resignativen oder gar zerstörerischen Haltungen. Sie wollen Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Darin liegen auch meine Visionen.  

Miteinander als Chance

Fritz Blanz

Welche Rolle spielt Diakonie in Kirchengemeinden? Wie kann ein Zusammenleben von Kirche und Gesellschaft in Zukunft funktionieren? Bereits Bonhoeffer sprach davon, "Kirche für andere" zu sein, helfend und dienend. Das Modell der Konvivenzgemeinschaften will Kirchengemeinden und Gemeinwesendiakonie mit gesellschaftlichen Akteuren zusammenbringen. Darin sieht der Autor die Zukunft der Kirche.

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Wie konvivial ist die Kirche schon?

Begriffe wie "Konvivenz" und "konvivial" wirken manchmal wie Stolpersteine. Das bestätigen Reaktionen von Leserinnen und Leser: "Aber hallo, was ist denn das?! Ich musst erst einmal googeln", ist die erste Reaktion. Im Lutherischen Weltbund können wir nun nach über zehn Jahre Konturen zeichnen. Da spielen Merkmale wie miteinander teilen, Selbstermächtigung, Gemeinwohlorientierung, Diversität, Radikalität, Anwaltschaft aber auch Spiritualität eine wichtige Rolle.

"An diesem Punkt erlaube ich mir einen gewissen Stolz auf unsere Kirche."

Inwiefern?

Alle Begriffe vereinen sich in drei Grundaussagen zur Rolle der Kirche: Kirche für andere, Kirche mit anderen und eine ökumenische Kirche, also eine Kirche der versöhnten Verschiedenheit. Um auf Ihre Frage zu kommen: Ja, wir haben viel konviviales Potential in unserer Kirche, vor allem in unseren Gemeinschaften und den Gemeinden mit ihren Gruppen und Kreisen. An diesem Punkt erlaube ich mir einen gewissen Stolz auf unsere Kirche.

Haben Sie dafür Beispiele?

Zwei Beispiele: Unsere Kirche initiierte von ein paar Jahren die F.I.T.-Projekte. Das waren über 60 armutsorientierte Projekte, die nur gefördert wurden, wenn sich Kirchengemeinden und diakonische Trägern zusammenschlossen. Viele der Initiativen konnten sich verselbständigen, ohne Fördermittel der Kirche. Ist da nicht fantastisch? Oder sehen wir die Dialoge mit anderen Religionsgemeinschaften an. Wie viel Verständnis für Andersdenkende hat sich daraus entwickelt. Doch es benötigt große Wachsamkeit, um Gewonnenes nicht wieder zu verlieren und auf der aktuellen Grundlage weiterzuarbeiten. Konviviale Ideen waren schon immer da, an vielen Orten. Doch die Ideenvielfalt darf ruhig kräftig zunehmen. Und das Puzzle sollte zusammengefügt werden, damit ein Ganzes entsteht.

Wo sehen Sie dringenden Handlungsbedarf?

Ich halte den Prozess Profil und Konzentration (PuK) als riesige Chance um unser Profil für eine konviviale Kirche zu schärfen. Die Lindauer Synodalerklärung hat die richtigen Weichen gestellt und sehr anspruchsvolle Ziele formuliert. Diese nachhaltig zu verfolgen lohnt sich in allem Fällen. Das Buch legt den Fokus auf den diakonischen Gemeindeaufbau und die Gemeinwesendiakonie. Glaubt man den Studien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, so ist diakonisches Handeln eine der Hauptbrücken in unsere Gesellschaft. Die Außensicht auf die Kirche gewinnt im Dienst an unseren Mitmenschen an Profil. Fragt man Menschen auf der Straße, so können sie Kirche mit ihren diakonischen Diensten am konkretesten beschreiben. Des Weiteren muss sich Kirche als Partnerin in der Gesellschaft definieren. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Orientierung von uns ausging und wir Werte und Moral alleine bestimmten.

"Kirche muss öffentlich werden, wie es unser Landesbischof mit seiner öffentlichen Theologie anmahnt. "

Was folgt daraus?

Kirche muss öffentlich werden, wie es unser Landesbischof mit seiner öffentlichen Theologie anmahnt. Das bedeutet, die Mauern der Gotteshäuser und Kirchenburgen verlassen und sich in die gesellschaftliche Teilhabe einbringen. Das Ross des heiligen Martin ist Geschichte. Heute müssen wir absteigen und gehören zum Fußvolk. Zudem brauchen wir keine Kirche, die um den Selbsterhalt bemüht ist. Ich sehe vor mir das Bild einer Kirche, die von visionären Handlungsstrategien getragen ist. Wir hatten schon solche Phasen, wenn ich an den konziliaren Prozess der 80er und 90er Jahre denke. Vieles prägt die Kirche bis heute, wie Umweltbeauftragte und grüner Gockel, faire Partnerschaften mit den Ländern des Südens mit einem großen Netz kirchlicher Eine-Welt-Läden. In der Friedensfrage kommen wir veranlasst durch den Ukraine-Krieg, nicht wirklich weiter. Die Option gewaltsamer Konflikte mit der Tötung von Menschen wird wieder salonfähig. 

Selbstfürsorge, damit ich für andere stark bin - wie kann dieser Spagat gelingen?

Aus meinem Sportunterricht weiß ich noch, dass Spagat immer etwas Schmerzhaftes war. Das würde ich unter dem Begriffspaar nicht verstehen. Ich versuche es einmal mit dem Begriff "Spannungsfeld". Für mich ist Selbstfürsorge eine Grundvoraussetzung, um das Zusammenleben zu gestalten. In meinem letzten Arbeitsfeld war ich für 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirchlichen Allgemeinen Sozialarbeit zuständig. Sie gingen häufig bis an die Belastungsgrenzen und setzen sich für Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit ein.

"Die Spannung lässt sich nicht aufheben, dazu sind wir allzu menschlich. "

Was haben Sie dort erlebt?

Ich erfuhr wiederholt von Burnout-Situationen. Mein Credo lautete: "Passt auf euch auf, sonst verlieren die Betroffenen eine gute Mitarbeiterin. Nur starke Mitarbeiter sind eine wirkliche Hilfe!" In unserer Kirche bedrückt mich weniger die Angst vor dem Verlust des gewaltigen Engagements, als vielmehr vor der Selbstüberforderung. Das Pendel zwischen Selbstvorsorge und stark sein für andere bewegt sich hin und her. Mal führt die Selbstfürsorge zur übertriebenen Vorsicht, die von einer Angst begleitet ist nach dem Motto "ich krieg meine Sachen nicht mehr auf die Reihe".

Dann entdecken wir wieder einen Altruismus, der bis zur Selbstaufgabe gehen kann. Dann fordere ich gerne eine gesunde Portion Selbstschutz. Die Spannung lässt sich nicht aufheben, dazu sind wir allzu menschlich. Aber wir können das Bewusstsein für die Spannung schulen. Wir brauchen eine gute Balance und Selbstwahrnehmung ebenso, wie gute Kolleginnen und Verantwortliche in Kirchengemeinden, Dekanaten und den kirchlichen Verwaltungsstrukturen, die achtsam miteinander umgehen, Ehrenamtliche und Hauptberuflich, Leitungen und Mitarbeiterinnen.

Die Kirche habe 2000 Jahre lang einen moralischen Imperativ verbreitet und soll jetzt lediglich den Diskurs antreiben. Wozu braucht es ausgerechnet die Kirche dazu?

Der moralische Imperativ ist anfällig. Er muss permanent um Glaubwürdigkeit ringen. Er darf sich keine Fehler erlauben. Zudem steht er über den Menschen. Insofern würde ich ihnen zustimmen, wenn sie den Begriff in die 2000-jährige Geschichte einordnen. Doch es gibt eine mindestens 3000-jährige Theologie, die vom Menschen mit seinen Schwächen und Fehlern spricht. Diese Bescheidenheit und Demut hilft uns, dialogfähig zu sein. Menschen, die zu ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten stehen, sind mir von Grund auf sympathischer. Und das geht vermutlich vielen in unserer Gesellschaft ähnlich. Damit kann man sich eher auf Augenhöhe begegnen. Die Kirche ist wohl die älteste Organisation, die sich mit der Suche nach einem guten Miteinander beschäftigt.

Nicht immer erfolgreich...

Es gab Zeiten, da war sie auf den Irrwegen des Scheiterns. Denken wir nur an die Fehler in der Judenverfolgung oder der Inquisition. Es gibt aber auch ein Dennoch. Vor allem in der jüngeren Geschichte finden wir exzellente Beispiele für die konstruktive Rolle der Kirche. Nehmen wir die Anwaltschaft für Schwache und Verfolgte, das Engagement von Brot für die Welt oder die Begleitung an den Grenzen des Lebens wie zum Beispiel Katastrophenhilfe und Notfallseelsorge. Die Kirche bringt sich bei ethischen Herausforderungen ein, bei der Betreuung von Geflüchteten und in der Nähe zu Sterbenden. Bei der Sinnsuche, wenn Menschen an ihre Grenzen stoßen, wenn sie verzweifelt sind, da kann Kirche ihre Stärke zeigen. Der Weg führt für mich von der moralisierenden Kirche weg und hin zu einer sorgenden Kirche, stets an der Seite der Menschen. Wir müssen nur darauf achten, dass wir die Fragen beantworten, die an uns gestellt werden und nicht jene, die wir selbst aufwerfen.

"Wie jeder Mensch brauchen auch Christen Räume der Reflexion und des Engagements."

Kirche erscheint vielen in einer unnahbaren Blase und Echokammer verhaftet. Wie kommt man da rein beziehungsweise raus?

Die Sorge um das Hinein- und Herauskommen muss ein Ende haben. Sie beschäftigt sich mehr mit dem Erhalt des Status’ quo. Die Sprache verrät unsere Absichten. Wenn wir über "Gewinnen von Mitgliedern" oder "die Kirche verliert Menschen" reden, dann landen wir im Tunnelblick. Hinter den Begriffen verbirgt sich die Haltung einer Komm-Struktur, die erwartet, dass andere auf uns zukommen und die mehr dem Selbstzweck dient. Komm-Strukturen weisen nicht unbedingt auf eine dynamische Kirche hin.

Bei einer kürzlichen Podiumsdiskussion wurde mir vom Bürgermeister des Ortes eine ähnliche Frage gestellt. Ich antwortete: "Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst muss sich die Kirche auflösen in der Gesellschaft. Dafür bekommen wir am Ende den Segen". Wie jeder Mensch brauchen auch Christen Räume der Reflexion und des Engagements. Es können Gottesdienste, Gesprächsgruppen, Diskussionsforen oder eine Fahrt nach Taizé sein. Aber dann muss ich schleunigst meine geheiligten Kammern verlassen und mich der Realität des Alltags stellen. Wir haben kein Recht, uns nur in der Blase der Glückseligen zu tummeln. Die Dynamik sollte uns zu den Menschen an den Ecken und Zäunen führen.  

Sie plädieren für eine Gegenkultur des Vertrauens. Wie soll die aussehen?

Die Vertrauensgemeinschaft ist neben der Verantwortungs- und Versöhnungsgemeinschaft ein Kernthema des Buchs. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus meinem Konfirmandenunterricht lautet: "Glauben heißt vertrauen". Vertrauen ist für mich eine jüdisch-christliche Grundhaltung. Sie besteht in dem alttestamentlichen Vertrauensangebot Gottes an uns Menschen, das Abraham stellvertretend für uns angenommen hat. Es wird bestärkt durch das Leben des Galiläers Jesus Christus und Gottes Begleitung durch alle Höhen und Tiefen der Kirchengeschichte. Trotz allem weltlichen Scheitern haben wir die Zusage "Ich mach mit euch weiter". Ist das nicht verrückt?! Diese Haltung sollten wir mit Wort und Tat in die Gesellschaft kommunizieren.

"Ich bin der Überzeugung, dass jede Gesellschaft ohne Vertrauen wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht. "

Ohne Vertrauen geht es nicht, meinen Sie?

Ich bin der Überzeugung, dass jede Gesellschaft ohne Vertrauen wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht. Vertrauen ist eine Investition in das gute Miteinander. Stellen sie einmal vor, sie würden ihre Kinder mit einer Pädagogik des Misstrauens erziehen und damit in die Chancenlosigkeit abgleiten lassen. Oder sie würden eine Gruppe, eine Organisation eine Gemeinde mit einer Kultur des Misstrauens führen. Das kann nur schief gehen. Oder denken wir an die gesellschaftlichen Debatten im rechten Milieu, die uns nicht wirklich voranbringen. Misstrauen ist destruktiv. Eine Vertrauenskultur dagegen eröffnet anderen Menschen immer wieder Chancen. Sie ermutigt anstatt zu resignieren. Sie hält Gegensätze und Widersprüche aus. Sie lässt Experimente zu. Sie will nicht ständig kontrollieren. Eine Vertrauenskultur wirkt heilend und versöhnend. Sie protestiert gegen das latente Misstrauen gegenüber andere, Politiker, sozial Schwache, Andersdenkende, auch Ämter und Behörden. Letztlich spiegelt sich in der Vertrauenskultur das uneingeschränkte Ja Gottes zum Leben wieder.

Nicht nur Kirche für, sondern auch mit anderen: Wie haben Sie dieses Ideal beim Lutherischen Weltbund erlebt?

Wir tagten in den unterschiedlichsten europäischen Kirchen in Skandinavien, Mitteleuropa, Osteuropa bis in der Ukraine. Jedes Mal mussten wir uns auf einen neuen Kontext einlassen. Also schalteten wir unseren Tagungen stets lokale Exkursionen vor. Wir besuchten zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen ebenso, wie Kirchengemeinden oder diakonische Einrichtungen. Wir wollten hören, was die Menschen uns zu sagen haben, bevor wir mit unseren Beratungen begannen. Innerhalb unserer Arbeitsgruppe hatten wir eine Zusammensetzung aus Jung und Alt, aus Ehrenamtlichen und Hauptberuflichen an der Basis und aus den Leitungsstrukturen. Wir hatten Mitglieder, die parochial organisiert waren aber auch klassische Volkskirchen. Damit die Beteiligungsformen funktionierten, mussten wir unsere Erkenntnisse an der eigenen Praxis überprüfen.

"Am Ende waren wir nicht mehr die Menschen, die sich vor zehn Jahren zum ersten Mal trafen."

Ist das nicht sehr aufwändig?

Doch. Sprachbarrieren mussten überwunden werden, kulturelle Kontexte und unterschiedlich verfasste Kirchen berücksichtigt werden. Außerdem brachte jede Person ihre Geschichte mit. Dafür benötigten wir Raum und Zeit. Zuhören und Vergewisserung war ein permanentes Begleitthema. Immer wieder ertappten wir uns bei der Versuchung, der Einfachheit halber wieder in alte Muster zu verfallen, so nach dem Motto "Wenn ich die Sache in die Hand nehme und Vorgaben mache, dann kommen wir schneller zu einem Ergebnis". Deshalb brauchen konviviale Prozesse viel Geduld und eine ergebnisoffene Einstellung. Am Ende waren wir nicht mehr die Menschen, die sich vor zehn Jahren zum ersten Mal trafen. Und dafür bin ich dankbar.