Ob Zeitumstellung, Homo-Ehe oder Nahost-Konflikt: Martin Luther beantwortet geduldig Frage um Frage. Er spricht ohne Pause, mit dem Wissen von heute und zu jedem Thema, egal ob banal oder komplex. Mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) erweckte die Evangelische Kirche im Rheinland am diesjährigen Reformationstag den historischen Reformator Martin Luther (1483-1546) in Form eines Avatars zum virtuellen Leben. Eine Stunde lang konnten ihm auf YouTube per Chat Fragen gestellt werden.

An Themen mangelte es nicht. Natürlich ging es um die Reformation, die Luther mit seinen Thesen gegen den Ablasshandel ab 1517 anstieß und die letztlich zur Entstehung der evangelischen Kirche führte. Natürlich ging es um den Papst, dem der aufmüpfige Mönch damals ein Dorn im Auge war. Wenig überraschend ging es auch um das Verhältnis der evangelischen und katholischen Kirche und um Theologie: "Wer kommt in den Himmel? Derjenige, der gute Werke tut und zweifelt, oder der, der glaubt und Böses tut?"

Fragen zu Luthers antijüdischer Hetze

Die Internetnutzerinnen und -nutzer fragten auch nach gleichgeschlechtlicher Ehe und LGBTQ+ oder zu politischen Themen. Unter anderem wollten sie wissen, wie der heutige Luther über die Parlamentswahlen in Polen und über Wege zum Frieden zwischen Israel und den Palästinensern denkt. Mehrere Fragen befassten sich mit Luthers antijüdischer Hetze, eine von ihnen lautete: "Was haben dir die Juden angetan, dass du so einen Hass gegen sie entwickelt hast?"

Der User Shrugor wollte wissen: "Wenn die Jünger Kuchen wären und das Alte Testament Pistazien, was wäre dann Jesus?" Eine exzellente Frage, befand der künstliche Luther. Seine weitschweifige Antwort lief darauf hinaus, dass Jesus "Brot des Lebens" ist. Der Avatar antwortete gut biblisch, um keine Antwort verlegen und schnell - aber etwas eintönig. Die Sätze waren eher lang, gefüllt mit Formeln, abstrakten Begriffen und immer wiederkehrenden Wendungen wie "Es ist wichtig zu betonen" oder "Es ist wichtig zu verstehen".

Lauwarme Politiker-Entschuldigungen und kraftloses Schwadronieren

Und was findet der virtuelle Luther wichtig? Zum Beispiel, dass die schrecklichen judenfeindlichen Äußerungen des historischen Reformators in einem historischen Kontext stehen. Er, der KI-Luther im Jahr 2023, verstehe, dass diese Texte heute kontrovers und beleidigend wirken. Und er bedauere zutiefst die Auswirkungen seiner damaligen Äußerungen. Worte, die nach lauwarmer Politiker-Entschuldigung klangen.

Dass der Jude Jesus in Bethlehem geboren ist, "wird in der christlichen Tradition als die Erfüllung von messianischen Prophezeiungen angesehen", sagt das Kunstprodukt. "Vergebung kann dazu beitragen, die Bitterkeit und den Hass zu überwinden." Gestanzte Richtigkeiten, die deutlich machten, dass der KI-gesteuerte Avatar der Sprachgewalt des echten Luther nicht das Wasser reichen kann.

Kraftlos schwadronierte der virtuelle Reformator von "tiefgreifenden theologischen Implikationen", von "Themen, die theologische Diskussion und Reflexion erfordern" und von der "komplexen Geschichte meines Lebens und meiner Entwicklungen". Bei aktuellen Fragen zeigten sich die Grenzen besonders deutlich: Da musste er einräumen, "dass ich als Figur des 16. Jahrhunderts nicht mehr lebe und daher keine aktuellen Entwicklungen kommentieren kann".

Die KI sei so programmiert worden, "dass sie Antworten im Stil von Martin Luther gibt", hatten die Veranstalter des Kooperationsprojekts zwischen der rheinischen Kirche und der Metaverse-Plattform XRhuman angekündigt. In jedem Fall konnten die KI einiges sagen, das Luther nicht wusste. Zum Beispiel, wie man eine Autobatterie überbrückt.

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