Die evangelische Theologin Margot Käßmann sieht viele Gründe für sinkende Mitgliederzahlen in den christlichen Kirchen in Deutschland. Traditionsabbruch in den Familien und die Missbrauchsskandale in den Kirchen seien zwei davon, schrieb die frühere Hannoversche Landesbischöfin in ihrer wöchentlichen Kolumne in der "Bild am Sonntag".

Kirchen gaben lange vor, wie Menschen zu leben haben

Lange Zeit hätten die Kirchen gemeint, den Menschen vorgeben zu können, wie sie zu leben haben:

"Da wurde Vertrauen verspielt."

Schon jetzt erlebe sie bei Taufen oder Beerdigungen, dass viele die Kirchenlieder nicht mehr kennten oder das Vaterunser nicht mehr mitsprechen könnten. "Kinder wissen nichts mehr von biblischen Geschichten", schrieb die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Kirche kein Auslaufmodell

Und doch seien die Kirchen kein Auslaufmodell, schrieb Käßmann weiter.

"Sie werden gebraucht, um Menschen Halt, Kraft und Trost zu geben. Die Botschaft von der Liebe Gottes wird gebraucht, um Menschen aufzurichten."

Im Jahr 2021 war erstmals weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche. Beide Kirchen verzeichneten eine Rekordzahl an Kirchenaustritten.

Mitgliederschwund seit Jahren Realität

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, der Mitgliederschwund ist schon seit Jahren Realität. Vor 15 Jahren waren noch 61,2 Prozent der Deutschen katholisch oder evangelisch. Doch hat sich der Mitgliederschwund in den vergangenen Jahren beschleunigt. Ein Grund dafür ist neben dem demografischen Wandel die gestiegene Austrittsrate.

In der katholischen Kirche hat sich 2021 der Anteil der Menschen, die aus der Kirche austraten, im Vergleich zu 2016 mehr als verdoppelt. Rechnet man orthodoxe oder freikirchliche Christen hinzu, gehören immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung einer christlichen Konfession an.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte ihre Zahlen für 2021 anders als bislang bereits im März veröffentlicht. Demnach gehörten 19,7 Millionen Deutsche einer der 20 evangelischen Landeskirchen an. Die Zahl der Kirchenaustritte stieg im Vergleich zum Pandemiejahr 2020 um 60.000 auf rund 280.000. Damit lag die Austrittsrate bei rund 1,4 Prozent.

Gründe sind laut Studie vielfältig

Ärger über einen Pfarrer oder ein anderer konkreter Anlass treibt nach Angaben des evangelischen Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) nur wenige Menschen aus der Kirche. Zwar sei davon auszugehen, dass konkrete Anlässe wie die kirchlichen Skandale zur sexualisierten Gewalt an Kindern und die Verschwendung finanzieller Mittel zur Austrittsspitze 2019 beigetragen haben, "insbesondere bei den vormals Katholischen", erklärte die Soziologin und Autorin der Untersuchung, Petra-Angela Ahrens im März In erster Linie vollziehe sich der Austritt jedoch als Prozess, der häufig schon mit einer fehlenden religiösen Sozialisation beginne.

Nur eine Minderheit der Befragten habe einen konkreten Anlass zum Kirchenaustritt (24 Prozent vormals Evangelische, 37 Prozent vormals Katholische), hieß es weiter in der Studie. Jüngere Befragte veranschlagen demnach konkrete Anlässe seltener als Ältere, und sie geben häufiger an, diesen Schritt schon länger entschieden zu haben. Fast ein Fünftel unter ihnen nutze eine sich ergebende "gute Gelegenheit".

Bei den weiterreichenden Gründen für den Kirchenaustritt kristallisiere sich eine empfundene "persönliche Irrelevanz" von Religion und Kirche als wichtiger Faktor heraus, so die Soziologin Ahrens. In diesem Zusammenhang werde gerade bei den vormals Evangelischen auch die mit dem Kirchenaustritt verbundene Ersparnis der Kirchensteuer als Grund angeführt (71 Prozent zustimmende Voten).