"Wenn jemand sagt, dass es klare Zahlen gäbe, würde ich die Seriosität infrage stellen."
Herr Haaks, wie ist es weltweit um die Religionsfreiheit bestellt?
Enno Haaks: Das ist eine gute Frage. Es gibt faktisch keine klaren Zahlen. Wenn jemand sagt, dass es klare Zahlen gäbe, würde ich die Seriosität infrage stellen. Deshalb ist der "Ökumenische Bericht zur Religionsfreiheit" der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz sehr vorsichtig mit Zahlen. Mit Recht, weil das eben nicht klar und signifikant definiert werden kann, was Verfolgung, was Bedrängung ist.
Wie gehen Sie dann vor?
2008 hat der damalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber angestoßen, dass man auf die Situation von verfolgten Christen achten soll. Als Gustav-Adolf-Werk, als Diasporawerk der EKD, ist es unsere Aufgabe, auf die Situation von Christen in bestimmten Kontexten aufmerksam zu machen.
Was heißt in bestimmten Kontexten konkret?
Letztes Jahr war das Belarus. Genau an diesem Beispiel kann man gut zeigen, wie komplex das Thema ist. Da gab es Bilder, wo der Geheimdienst in eine katholische Kirche reingegangen ist und Leute da rausgezogen hat. Das ist massive Repression und Verfolgung. Es waren sicherlich Leute in der Kirche, die dezidiert Christen waren. Aber es waren garantiert auch Nicht-Christen in der Kirche, die dort den Raum der Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen wollten. Damit wird der Gottesdienstraum auf einmal politischer Raum.
"Man kann Christen in diesem Bereich nicht einfach isoliert betrachten."
Es ging also nicht nur um Glaubens-, sondern auch um Meinungsfreiheit?
Das hängt ja eng zusammen: Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit. Ein säkularer Mensch, der keiner Konfession, keiner Religion zuzuordnen ist, kann auch aufgrund seines Gewissens Repression erfahren. Man kann Christen in diesem Bereich nicht einfach isoliert betrachten. Wir können das nie dezidiert von anderen Verfolgungsgeschichten lösen. Die Verfolgung von Muslimen etwa, den Uiguren in China oder den Muslimen in Myanmar – wo fängt es an, wo hört es auf? Es ist ein hochkomplexes Thema.
Sie meinen also, es gibt entweder für Gewissens- und Glaubensfreiheit für alle – oder für keinen?
Es gibt in Breitenfeld bei Leipzig einen Gedenkstein für eine Schlacht im 30-jährigen Krieg, die Gustav II Adolf gewonnen hat: "Glaubensfreiheit für die Welt, rettete bei Breitenfeld, Gustav Adolf, Christ und Held". Es geht um Glaubensfreiheit für die Welt. Damals schon. Die Protestanten wurden niedergemacht. Man musste lernen, dass Glaubensfreiheit letztendlich ein hohes Gut ist und dass nicht alle gleich denken müssen.
Aus Ihrer Sicht macht es also keinen Sinn, sich nur zum Beispiel der Verfolgung von Christen zu widmen und andere Kontexte auszublenden?
Genau. Ein anderes Beispiel: Nicaragua. Da äußern sich Leute. Sie äußern sich als Christen und kriegen massiv Probleme, wenn sie die Regierung kritisieren. Da geht es aber um die Kritik an der Regierung, nicht darum, Christ zu sein. In Mexiko genau das Gleiche. Dort hat der Staat in einigen Regionen kaum noch Macht. Die haben stattdessen die Drogenbarone. Da gibt es Leute, die schlicht und ergreifend nicht bei der Drogenmafia mitmachen wollen. Und das sind dann höchstwahrscheinlich Christen, weil Mexiko ein katholisches Land ist. Aber eigentlich geht es um Drogenkriminalität und nicht darum, dass Menschen dezidiert als Christen verfolgt werden.
"Manchmal sind es Evangelische, die andere unterdrücken."
Die Vorstellung, dass Christen immer von Gläubigen anderer Religionen verfolgt werden, stimmt also nicht?
Man muss immer schauen, wer sind die Akteure, wer verfolgt wen aus welchen Gründen? Manchmal sind es eben auch Orthodoxe, die Evangelische verfolgen, oder Katholiken, die Evangelische verfolgen. Manchmal sind es Evangelische, die andere unterdrücken. Und manchmal hängt es mit Ethnien und Nationalitäten zusammen und dann wird es ganz kompliziert. Denken Sie an den Krieg zwischen an Armenien und Aserbaidschan. Natürlich werden die christlichen Armenier da unterdrückt. Das ist aber kein rein religiöses Thema, sondern da geht es auch um Vormachtstellung, da geht es um Territorien.
Wie gehen Sie als Gustav-Adolf-Werk konkret gegen Repressionen vor?
Wir sind ein evangelisches Hilfswerk, das versucht, Menschen zu helfen, ihren Glauben in Freiheit leben zu können. Den Glauben an Jesus Christus. Das ist unser Hauptfokus. Und das tun wir, indem wir vor allen Dingen versuchen, Infrastruktur zu stärken, zu stabilisieren, zu renovieren. Kirchen, Pfarrhäuser, Gemeindehäuser, die es braucht, damit Menschen sich überhaupt versammeln können, damit sie Bildung erfahren können, damit sie gemeinsam beten können, damit Hilfe geleistet werden kann.
Wir haben weltweit mit unseren 50 Partnerkirchen in 40 Ländern ein Netzwerk an Kirchen, die in der Lage sind, in ihren jeweiligen Gesellschaften zu helfen. Aber wir sind jetzt nicht so, dass wir das Hilfswerk für die verfolgten Christen sind. Das wäre zu hoch gegriffen. Und das trifft auch nicht den Kern unseres Auftrags.
"Verfolgt zu werden ist kein christliches Alleinstellungsmerkmal."
Sondern?
Verfolgt zu werden, ist kein christliches Alleinstellungsmerkmal. Und letztendlich sind wir immer wieder dazu aufgerufen, die Menschenrechte hochzuhalten. Für uns als evangelische Christen ist Glaubens- und Religionsfreiheit das Herzstück der Menschenrechte. An diesem Recht hängen Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit mit dran – und im Grunde Demokratie.