In einer ganz normalen Woche besuche ich zwei Menschen zu ihrem Geburtstag, führe ein Gespräch für eine Beerdigung, lerne ein Brautpaar kennen und treffe eine Familie zur Vorbereitung der Taufe ihres Nachwuchses.

Mal trinke ich Wasser aus Gläsern, die ich lieber mit Schnaps desinfiziert hätte und hole draußen tief Luft. Mal sitze ich in einem Designerstuhl und zupfe nervös an meinem weißen Kragen, aus Angst, meine Bluse könnte einen Fleck haben. Das Brautpaar hat nur Sojamilch und Dinkelkekse, bei der Tauffamilie trete ich auf ein rosa Einhorn und teile mir mit der Tochter eine Limo.

Mein Beruf lässt mich in Wohnungen schlüpfen, die ich sonst nie gesehen hätte und Menschen begegnen, mit denen ich sonst nichts zu tun gehabt hätte.

Aber bei meinen Besuchen macht das nichts. Dann bin ich die Pfarrerin und habe einen Auftrag: beerdigen, taufen, trauen, gratulieren - und damit das unverbriefte Recht neugierig zu sein.

Ich frage alles, was mich interessiert. Wo der erste Kuss war und ob der verstorbene Ehemann eigentlich auch mal rumgeschrien hat. Wie die Schwiegermutter das mit der Taufe findet. Ob das Brautpaar eigentlich über einen Ehevertrag gesprochen hat und ob einer schon mal fremdgeküsst hat. Und die Leute antworten. Immer eigentlich.

Das ist das Schönste: Die Offenheit.

Das Leuchten auf dem Gesicht der eleganten und gebildeten Frau, als sie von dem Telegramm erzählt, mit dem sie damals ihre Eltern über ihre Verlobung informiert haben. Die Tränen, die der junge Papa schnell wegwischt als er von seinem Vater erzählt, der nicht zur Taufe kommen wird. Und ich höre zu.

Warum die Menschen meine Fragen nicht als übergriffig und unverschämt empfinden? Ich glaube, weil ich bei meinen Küchentisch-Gesprächen einen Goldrahmen dabei habe. Einen glänzenden goldenen Rahmen. Sogar in verschiedenen Größen. Ich halte ihn ganz vorsichtig fest, wenn der Andere spricht. Wenn die Angst ein bisschen hervorschaut. Wenn das Glück durch die Ritzen blitzt.

Wenn die Scham und die Schuld die Schultern sinken lassen, dann hole ich meinen Goldrahmen aus der Tasche.

Er kann nicht zaubern, mein Goldrahmen. Er macht nichts wieder gut, was verloren ist und er kann auch nicht in die Zukunft schauen. Aber er hält fest, was da ist: Dieses ganze krasse wunderbare, undurchsichtige und holpernde Leben. Dieses Leben, das so wie es war und ist, Dein Leben ist.

"Das bist Du. Du hast Dein Bestes getan. Immer wieder hast Du gekämpft und gelacht und wieder von vorne angefangen. Und deshalb muss nichts davon gelöscht oder zurechtgebogen werden. Es gehört zu Dir. Es darf gerahmt werden, in Gold." Eigentlich sage nicht ich das, sondern Gott. Gott ist der mit dem Goldrahmen. Er rahmt die Tränen ein und das Glück. Nichts davon muss man vor ihm verstecken oder verbergen.

Wenn ich dann so mit meiner Kaffeetasse an den kleinen und großen Tischen in den hübschen und weniger hübschen Wohnungen sitze, dann bin ich die mit dem Goldrahmen. Weil die Menschen dann spüren, dass ich sie nicht für das verurteile, was sie mir anvertrauen. Weil sie vielleicht merken, dass ihr Leben - so wie es ist - zu ihnen gehört.

Ich finde alle Lebensbilder gehören in Gold gerahmt.

Nicht, weil Menschen keine Fehler machen oder es nichts zu bereuen gäbe. Sondern deswegen, weil uns nichts von diesem Leben trennen kann, das wir führen. So gern wir es manchmal anders leben würden, besser und klüger. Es bleibt. Und wenn es bleibt, dann braucht es einen Rahmen. Einen goldenen Rahmen, der festhält, was bleiben soll und nicht verwischt, was war. Und so wie uns nichts von unserem Leben trennt, genauso trennt uns auch nichts von der Liebe Gottes, der den Goldrahmen hält.

Daran glaube ich: "Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes."