Ein Wert, der Kirche und SPD verbindet, ist die Frage nach Gerechtigkeit und Teilhabe. Wie definieren Sie als Christ Gerechtigkeit?
Markus Rinderspacher: Gerechtigkeit bedeutet, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft die Möglichkeit hat, einen Platz in unserer Mitte zu finden – und zwar unabhängig von Nationalität, Geschlecht, Religion oder Alter. Benachteiligungen sollten abgebaut werden. Aber wenn man sich die Realität vor Augen ruft, ist genau das Gegenteil der Fall. Frauen verdienen in den gleichen Berufen etwa 25 Prozent weniger als Männer und im reichen Freistaat kommen auf rund 1,5 Millionen Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze leben, rund 3.500 Einkommensmillionäre.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat Gerechtigkeit zu seinem Wahlkampfthema gemacht. Woran liegt es, dass das Thema nicht so recht zünden will?
Rinderspacher: Migrationsfragen, Terror in unserem Land und weltweit stehen so stark im Fokus, dass selbst zentrale Zukunftsfragen wie die Rentenpolitik und die Schere zwischen Arm und Reich in den Hintergrund treten. Das bedauere ich sehr.
Warum ist Gerechtigkeit trotzdem das richtige Wahlkampfthema?
Rinderspacher: Gerechtigkeit spielt auf allen Ebenen eine zentrale Rolle und gehört seit über 150 Jahren zur Sozialdemokratie. Wenn ich mit Bürgerinnen und Bürgern am Infostand, in der Bürgersprechstunde oder im Biergarten ins Gespräch komme, geht es immer wieder um Gerechtigkeit – auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildung, in der Generationenfrage. Die Menschen erwarten von der Politik auch einen Kompass in Gerechtigkeitsfragen.
Wie kann die SPD mehr Gehör finden?
Rinderspacher: Häufig wird an mich herangetragen: ‚Ihr müsst lauter, schriller werden! Ihr müsst die Botschaften vereinfachen!‘ Aber damit tue ich mich schwer. Politik ist sehr komplex und die einfache Parole, egal ob in Ungarn, Polen, Frankreich, Österreich, Amerika oder bei uns in Bayern, darf nicht besser ankommen als der differenzierte Gedankengang. Mit jeder Vereinfachung ist auch Verdummung verbunden und ein Verlust an Moral. Ich kann nur an die Bürgerschaft und Medien appellieren: Schaut genau hin! Rennt nicht den Politikern hinterher, die am lautesten schreien, sondern denen, die bereit sind, um Lösungen zu ringen.
Special
Sollen Vertreter von Kirchen politisch agieren oder nicht? Kirche und Diakonie mischen sich immer wieder ein, wenn es um Themen wie Armut oder Flüchtlingspolitik geht. In unserem Themenspecial zur Bundestagswahl stellen wir Ihnen die wichtigsten Positionen vor und fühlen den Politikern auf den Zahn. Alle Artikel und Beiträge finden Sie hier: www.sonntagsblatt.de/bundestagswahl.
Sie sind in zwei Parlamenten tätig – dem Bayerischen Landtag und der Synode der Landeskirche. Welche Unterschiede sehen Sie?
Rinderspacher: Ich genieße die Diskussionskultur in der Synode. Ich habe riesengroßen Respekt davor, wie um jeden Satz und jedes Wort gerungen wird. Man merkt, dass alle das Ziel haben, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Das Versöhnende steht im Mittelpunkt. Im Landtag gibt es gelegentlich Diskussionen, die Spiegelfechtereien gleichkommen und der politischen Nabelschau von Politikern, Parteien und Fraktionen dienen. Man muss die Trennschärfe der Parteien hervorheben, obwohl am Ende trotzdem 80 Prozent aller Anträge und Gesetzentwürfe über vier Fraktionen einstimmig beschlossen werden.
Wenn Sie es sich aussuchen dürften: Würden Sie eher mehr Synodentagungen oder mehr Landtagssitzungen besuchen?
Rinderspacher: Das ist eine schwere Frage! Tatsächlich würde ich mir an der einen oder anderen Stelle im Landtag mehr Synode wünschen. Dadurch, dass wir im Landtag eine Regierungspartei und drei Oppositionsparteien haben, ist die Machtverteilung glasklar. Die Regierung hat keine Notwendigkeit, den Konsens zu suchen und herzustellen. Meines Erachtens ist aber das Gegenteil richtig: Nur die durchdachte, gut diskutierte, am Ende vielleicht auch konsensuale Entscheidung macht unsere Demokratie und eine gute Lösung aus. Deshalb würde ich mir mehr Aufeinander-Zugehen, mehr Einander-Zuhören und Verstehen-Wollen von allen Seiten wünschen.
Sollte die Synode Ihrer Meinung nach zupackender sein und klarer Position beziehen?
Rinderspacher: Ich habe mit großer Freude zur Kenntnis genommen, dass die Synode durchaus politisch ist, dass sie Stellung bezieht und sich vor den großen Fragen unserer Zeit nicht versteckt – und das bringt sie auch klar zum Ausdruck.
Gibt es ein konkretes Beispiel, wo die Position der Synode in den Landtag eingeflossen ist?
Rinderspacher: Kirchenasyl war gerade bei der letzten Synode in Coburg ein großes Thema. Das haben wir zum Anlass genommen, es auch im bayerischen Landtag zu thematisieren. Wenige Wochen später gab es eine große Debatte mit Justizminister Winfried Bausback, in der diskutiert wurde, warum in diesem Bereich plötzlich Staatsanwaltschaften tätig werden, die das Kirchenasyl jahrzehntelang respektiert haben.
Man muss fast den Eindruck gewinnen, als wollten die Parteien das Thema Flüchtlinge umgehen, weil sie befürchten, dass es die AfD stärkt. Aber ich finde, man sollte dieses Thema offensiv angehen.
Rinderspacher: Das ist ein Unding. Es kann nicht sein, dass sich Menschen, die sich zum Fürsprecher für Menschen in Notlagen machen, plötzlich mit der Justiz konfrontiert sehen. Das halte ich juristisch für extrem fragwürdig. Offensichtlich fährt die Staatsregierung neuerdings eine härtere Linie. Aber ich habe den Eindruck, dass die Kirchengemeinden sehr verantwortungsbewusst und sensibel mit Kirchenasylen umgehen. Natürlich ist es auch kein Angriff auf den Rechtsstaat und deshalb sind die Staatsregierung und die Justiz aufgefordert, dieses uralte, gute Prinzip des Kirchenasyls zu respektieren und davon Abstand zu nehmen, Pfarrerinnen, Pfarrer und Kirchenvorstände zu kriminalisieren.
Welche Rolle spielt die Flüchtlingspolitik für die SPD?
Rinderspacher: Eine humane Flüchtlingspolitik und verstärkte Anstrengungen bei der Integration sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ich würde mich freuen, wenn das Thema Integration im Wahlkampf eine größere Rolle spielen würde als das gegenwärtig der Fall ist. Man muss fast den Eindruck gewinnen, als wollten die Parteien das Thema umgehen, weil sie befürchten, dass es die AfD stärkt. Aber ich finde, man sollte dieses Thema offensiv angehen.
Was genau muss im Bereich Integration getan werden?
Rinderspacher: Wir brauchen genügend Deutschkurse, Wohnungen und einen Arbeitsmarkt, der die Flüchtlinge besser aufnimmt als in den vergangenen zwölf Monaten. Ich glaube, da sollten die Parteien im Landtag enger zusammenarbeiten, weil wir uns im Kern einig sind. Nur über die Wege, die dahinführen, sind wir uns nicht einig. Wenn ich sehe, dass die Staatsregierung die Mittel beim Wohnungsbau von 160 Millionen 2016 auf 87 Millionen in diesem Jahr fast halbiert hat, kann ich nicht erkennen, dass sie die Wohnungsnot ernstnimmt. Wenn ich sehe, wie lange Flüchtlinge brauchen, bis sie endlich einen gescheiten Deutschkurs bekommen, gibt es auch da ein Defizit.
Als Mitglied des Kirchenparlaments und evangelischer Christ ist es in meinem Interesse, dass das Christentum mit allen möglichen Botschaften der Modernität seine Wirkungskraft entfaltet.
Mit dem Reformprozess "Profil und Konzentration" will die bayerische Landeskirche die kirchliche Arbeit neu sortieren. Was halten Sie von dem Programm?
Rinderspacher: Nicht nur als Mitglied des Kirchenparlaments, sondern auch als evangelischer Christ ist es in meinem Interesse, dass das Christentum mit allen möglichen Botschaften der Modernität seine Wirkungskraft entfaltet. Deshalb begrüße ich es, dass frühere Arbeitsabläufe, Organisationsstrukturen und Kommunikationswege infrage gestellt werden und die Frage aufgeworfen wird, wie Kirche stärker an die Menschen rankommt, wenn die Menschen weniger zu ihr kommen. Daran kann sich auch die Politik ein Beispiel nehmen.
Inwiefern?
Rinderspacher: Die politischen Parteien stehen vor der gleichen Fragestellung. Wir haben Mitglieder- und Wählerschwund. Unsere Veranstaltungen sind mitnichten so gut besucht wie in den siebziger Jahren zu Zeiten von Willy Brandt. Durch Fernsehen und Internet kann man sich heute sehr gut informieren, ohne den unmittelbaren Kontakt zu Parteien und Politikern zu suchen.
Wenn Sie eine Woche mit jemanden den Job tauschen könnten, mit wem wäre das?
Rinderspacher: Mit meinem Hund Poppy. Dem geht es von morgens bis abends gut: Er bekommt das beste Essen, Auslauf, Streicheleinheiten und 24 Stunden am Tag Aufmerksamkeit. Poppy muss der glücklichste Hund der ganzen Welt sein. Da würde mich ein Tausch durchaus reizen – zumindest für ein paar Stunden.