Reinhard Marx ist ein ausdrucksstarker Mensch. Gesagtes unterstreicht er gern mit ausladenden Handbewegungen, gibt sich volksnah, aufgeschlossen und publikumswirksam.

Zu seinem Job als Erzbischof von München und Freising, einem der bedeutendsten Erzbistümer Deutschlands, wo der Amtsinhaber seit dem Ersten Weltkrieg immer auch den Kardinalstitel erhalten hat, gehört ohnehin eine gewisse Portion Machtbewusstsein. Und dennoch - auch an Reinhard Marx gehen die derzeitigen Krisen, in der die katholische Kirche steckt, nicht spurlos vorüber. Am 21. September wird Marx 70 Jahre alt.

Ein beeindruckender Lebenslauf

Vor seiner Münchner Zeit hatte sich Marx als Bischof von Trier (2002-2008) und als Sozialethiker einen Namen gemacht. Von 1989 bis 1996 war er Direktor des Sozialinstituts Kommende in Dortmund, von 1996 bis 2002 Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Paderborn sowie zwischen 2004 und 2014 Vorsitzender der Kommission für Gesellschaftliche und Soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz.

2008 veröffentlichte er sein viel beachtetes Buch "Das Kapital" - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen weltberühmten Werk seines Namensvetters Karl Marx (1818-1883) -, in dem er vor einem ungezügelten Kapitalismus warnte.

Freundlicher Empfang in der bayrischen Landeshauptstadt

2008 kam Marx nach München. Dort wurde er, der 1953 als Sohn eines Schlossers im westfälischen Geseke geboren wurde und Theologie und Philosophie in Paderborn, Paris, Münster und Bochum studiert hatte, mit offenen Armen empfangen.

Keine Selbstverständlichkeit: Immerhin hatte sein Vorgänger Kardinal Friedrich Wetter 26 Jahre lang an der Spitze des Erzbistums gestanden. Dementsprechend bescheiden trat Marx auf:

"Ich will wirklich Bürger dieser Stadt werden und für Sie alle ein guter Erzbischof."

Der damalige Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) attestierte Marx "Aufgeschlossenheit, Heiterkeit, Lebensfreude und Fußballbegeisterung", der damalige - evangelische - bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) nannte ihn einen "unermüdlichen Anwalt und Fürsprecher der Armen" und der evangelische Landesbischof Johannes Friedrich bezeichnete Marx als "kompetenten, dialogbereiten und ökumenisch interessierten Gesprächspartner".

An der Ökumene "müssen wir einfach dranbleiben", sagte Marx zu seinem Amtsantritt dem Bayerischen Rundfunk. Wichtig waren ihm daher auch der Ökumenische Kirchentag 2010 in München und das 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017.

Enger Kontakt mit Landesbischof Bedford-Strohm

Ein Glücksfall für die Ökumene war auch, dass Marx und der bayerische evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm - ebenfalls ein Sozialethiker - von Anfang an gut miteinander konnten. Die beiden leben bis heute die Ökumene der kurzen Wege.

"Es hilft, dass ich mit dem Fahrrad in drei Minuten bei Kardinal Marx bin", sagte Bedford-Strohm einmal, dessen Amtssitz nur wenige Hundert Meter vom Erzbischöflichen Palais entfernt liegt. Die ökumenische Freundschaft wurde 2014 auch bundesweit bedeutsam, als die zwei Bischöfe an die Spitze ihrer jeweiligen Kirche bestimmt wurden: Marx zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bedford-Strohm zum Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Tradition und Fortschritt vereint

Marx, der bestens vernetzt im Vatikan ist und 2013 auch ins Beratergremium von Papst Franziskus geholt wurde, vertritt traditionelle Ansichten, hat aber auch ein Gespür dafür, wo die Menschen frischen Wind erhoffen: Eine Priesterweihe für Frauen sieht er zwar skeptisch, setzt sich aber dafür ein, dass Frauen vermehrt in kirchlichen Führungspositionen tätig sein sollen.

Auch den Zölibat für Priester verteidigte er anfangs, inzwischen plädiert er für eine Öffnung. "Bei manchen Priestern wäre es besser, sie wären verheiratet. Nicht nur aus sexuellen Gründen, sondern weil es für ihr Leben besser wäre und sie nicht einsam wären", sagte er im vergangenen Jahr der "Süddeutschen Zeitung".

Missbrauchsdebatte trifft Marx hart

Diese Nachdenklichkeit bei Marx ist nicht zuletzt in der Missbrauchsdebatte wahrzunehmen, die ihn nach eigener Aussage schwer belastet hat.

"Ich hätte gern auf den Kardinalshut verzichtet, wenn mir das Jahr 2010 in Teilen erspart geblieben wäre", gab er unumwunden zu. 2010 kamen erstmals in bundesweitem Ausmaß unzählige Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche ans Licht, im selben Jahr erhielt Marx seine Kardinalswürde.

Viele Missbrauchsfälle im eigenen Erzbistum

Marx gab ein erstes Missbrauchsgutachten für sein Erzbistum in Auftrag, welches vernichtend ausfiel. Mindestens 159 Priester und 96 katholische Religionslehrer sollen zwischen 1945 und 2009 in Fälle sexuellen Missbrauchs verstrickt gewesen sein, lautete das Ergebnis einer unabhängigen Anwaltskanzlei Ende 2010.

Marx zeigte sich erschüttert und bereit zur weiteren Aufklärung. 2022 erschien dann ein zweites Gutachten für den Zeitraum bis 2019: Diesmal gingen die externen Gutachter von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus - und erneut von einer beachtlichen Dunkelziffer.

Vorwürfe gegen Marx selbst

Diesmal wurden auch Vorwürfe gegen Erzbischof Marx selbst erhoben: unangemessener Umgang mit Fällen sexueller Gewalt, aber auch Willen zur Aufklärung. Marx zeigte sich erneut bestürzt, bat um Vergebung und bot Wochen später überraschend sogar seinen Rücktritt als Erzbischof an, um "Mitverantwortung für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs" zu zeigen.

Seine Kirche sei an einem "gewissen toten Punkt", schrieb er an Papst Franziskus und prangerte später mit einem gewissen Frust so manches "Gehabe" und "Selbstbewusstsein" in seiner Kirche an. Der Papst lehnte das Gesuch ab.

Austritte aus der Kirche häufen sich

Es ist mit auf das Münchner Missbrauchsgutachten zurückzuführen, dass im vergangenen Jahr so viele Menschen wie noch nie aus der katholischen Kirche ausgetreten sind: Knapp 50.000 im Erzbistum München, mehr als 153.000 in Bayern und mehr als eine halbe Million in ganz Deutschland.

Einen sprunghaften Anstieg der Austritte verzeichnete auch die evangelische Kirche. Bei Erzbischof Marx machte sich angesichts solcher Zahlen erneut Ratlosigkeit breit:

"Ich frage mich: Was kann ich tun? Was ist meine Aufgabe?"

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