Allmählich gewinnen die Menschen in der Corona-Krise wieder ihre Reisefreiheit zurück. Das könnte für manche melancholische Abschiedsszene am Nürnberger Hauptbahnhof sorgen. Ein letzter Gruß aus einem offenen Zugfenster mit einem Taschentuch wie in früheren Zeiten ist allerdings schon lange nicht mehr üblich. Winken mit Taschentuch wäre wohl auch in Zeiten des Virus undenkbar, sinniert Ursula Bartelsheim. Die Kuratorin im DB Museum in Nürnberg hat mit der neuen Dauerausstellung "Bahnhofszeiten" rund um das Leben an Bahnhöfen im Wandel der Zeit eine Ausstellung konzipiert, die in dieser Form als bundesweit einmalig gilt.

Das bunte Treiben in den Bahnhöfen hat sich facettenreich geändert, seit 1835 die erste deutsche Eisenbahn von Nürnberg ins benachbarte Fürth tuckerte.

Seitdem sind knapp 200 Jahre vergangen. Mit rund 100 Exponaten illustriert die Ausstellung die Geschichte der Bahnhöfe. Seit Züge eine erste, frühe Massenmobilität auf Gleisen ermöglichten, gehörten Wartesäle immer zum Reiseangebot. Der Fahrkartenkauf in Zeiten ohne Automaten oder Smartphone-Apps war ein langwieriger Prozess. Zudem musste das Reisegepäck aufgegeben werden, das dann Gepäckträger separat verluden.

Auch Zugverspätungen sind keine Erscheinung der Gegenwart. Auf Schieferschildern wurde die Wartezeit vermerkt, die beispielsweise per Telegrafenverbindung durchgegeben wurde. Auch ein erhaltenes Beschwerdebuch gibt Auskunft über die Kritik von Reisenden.

Mit der Eröffnung der Dauerausstellung ist auch der historische "Wartesaal für Allerhöchste Herrschaften" wieder zugänglich.

Der 1864 im alten Nürnberger Centralbahnhof eingerichtete Wartesaal war eigentlich nur Königen und höchstoffiziellen Repräsentationsveranstaltungen vorbehalten. Hier wurde der bayerische König Ludwig II. bei seiner Frankenreise vom damaligen Oberbürgermeister der Stadt empfangen. Bereits 1923 wurde der vornehme Wartesaal ausrangiert und im Museumsgebäude untergebracht. Seit Februar dient er auch als prächtige Kulisse für standesamtliche Trauungen.

Aus den Wartesälen entwickelten sich Gaststätten, die Gäste nur mit Fahrkarte betreten durften. Sie waren streng getrennt nach erster, zweiter und dritter Klasse. Für die Reisenden dritter Klasse wurde Bratwurst und Bier angeboten.

Nach dem Ersten Weltkrieg kauften sich in kalten Zeiten gern auch Obdachlose einen Fahrschein dritter Klasse, um sich aufzuwärmen und günstig zu essen.

Die gehobenen Gastroangebote entwickelten sich oft zu den besten Restaurants der Stadt, berichtet Kuratorin Bartelsheim. Hier wurden Champagner und erlesene Speisen in mehrgängigen Menüs auf edlem Porzellan serviert, auch wenn es für Reisende mit dem Dessert schon mal knapp werden konnte. Davon können Bahnreisende heute nur noch Spuren entdecken. Der moderne Bahnhof hat die Säle erstklassiger Restaurants in Shoppingmeilen mit Imbisslokalen umgebaut.

Bahnhöfe waren aber auch Drehscheibe für Arbeitssuchende vom Land, die am Ende des 19. Jahrhunderts ihrer Not entfliehen und ihr Glück in der Stadt machen wollten. Junge Frauen wurden auf der Suche nach einer Anstellung als Dienstmädchen oft schon am Bahnsteig von Zuhältern oder Kupplern abgefangen. Um diese Frauen in der Kaiserzeit zu schützen, wurde 1894 die erste evangelische Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof in Berlin gegründet. Ein fiktiver Videofilm lässt an dieser Medienstation eine junge Frau in der damaligen Zeit über ihre Erwartungen und Nöte sprechen.

Beim Gang durch die Ausstellung stößt man auch auf die gewölbten Schalensitze aus Metallgittern, die in den 1980er Jahren in deutschen Bahnhöfen eingeführt wurden. Sie lösten die früheren Sitzbänke weitgehend ab, um zu verhindern, dass Menschen sich dort zum Schlafen hinlegen.

Den Wandel vom imposanten Bahnhofsgebäude zur modernen Shoppingwelt wird exemplarisch am Leipziger Bahnhof illustriert.

An einem Bildschirm werden historische Ansichten gezeigt, mit einem Fingerstrich lässt sich die moderne Ansicht darüberlegen.

In Szene gesetzt werden auch die Bahnhofslichtspiele, die "Bali-Kinos", die Ende der 1920er Jahre zunächst mit den Wochenschau-Kinonachrichten aufkamen und die später als Schmuddelkinos in Verruf gerieten. Der Zuschauer sieht die cineastische Dimension in Kinoclips aus Verfolgungsjagden im Gewirr des Großstadtbahnhofs und Szenen aus Action-Filmen. Dem Besucher fallen sofort die Filme mit legendären Bahnhofsszenen ein wie "Spiel mir das Lied vom Tod" oder "Anna Karenina".

Die Ausstellung stellt die verschiedensten Facetten aus dem Mikrokosmos Bahnhöfe zusammen. Darunter findet sich als ältestes Ausstellungsstück, die Kopie der Nürnberger Polizei-Vorschriften der Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft für das korrekte Verhalten der Passagiere aus dem Jahr 1844. Ein historischer Geschäftsmann berichtet an einer weiteren Medienstation über Zeit und Hektik am Gleis. Kuratorin Bartelsheim erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass erst 1843 eine einheitliche mitteleuropäische Zeit eingeführt wurde.