Wer den Eurovision Song Contest (ESC) als abendfüllende Folter mit popmusikalischer Dutzendware von überwiegend zweifelhafter Qualität bezeichnet, liegt nicht ganz falsch. Doch auch dieses Jahr haben sich fast 200 Millionen Menschen das bunte Spektakel angesehen. Aufgeladen war der ESC 2024 im schwedischen Malmö mit dem Gaza-Krieg und Forderungen nach einem Ausschluss der israelischen ESC-Kandidatin Eden Golan.

In Erinnerung bleibt vom ESC 2024 daher wohl weniger der Sieger-Song aus der Schweiz, sondern mehr das Bild von den Hunderten propalästinensischen Demonstranten, die vor dem Hotel, in dem die 20-jährige israelische Sängerin untergebracht war, antisemitische Slogans skandierten. Unter ihnen: die vor gar nicht so langer Zeit auch von evangelischen Kanzeln als jugendliche Heilige des Klimaschutzes gepriesene Greta Thunberg, die inzwischen zur Judenhasserin mutiert ist und in Malmö von der schwedischen Polizei abgeführt wurde.

Mobbing gegen eine junge Frau

Eden Golan erhielt zahllose Morddrohungen und konnte ihr Hotel nur für Proben und Auftritte verlassen – unter Polizeischutz. Man mag sich kaum ausmalen, was ohne diesen mit der israelischen Delegation in Malmö passiert wäre. "United by music – vereint durch Musik": Das offizielle Motto des ESC klang da wie Hohn. Und viele ihrer Musiker-Kollegen aus anderen Ländern sprangen nicht etwa der bedrohten israelischen Künstlerin zur Seite, sondern solidarisierten sich im Gegenteil mit den Boykottforderungen gegen sie.

In der Malmöer ESC-Halle setzte sich beim Finale des Wettbewerbs das Mobbing gegen die junge Jüdin fort. Dort war die Sängerin anfangs kaum zu hören, so laut waren die Buhrufe. Die Fernsehzuschauer bekamen davon nichts mit, weil der Veranstalter, die Europäische Rundfunkunion EBU, die Pöbeleien mit Applaus vom Band ausfilterte.

Feiertag für die LGBTQ-Gemeinde

Eden Golan konterte alle Anfeindungen mit Anmut: Sie wolle mit ihrem Auftritt den nach Gaza Entführten und ihren Angehörigen eine Stimme geben. Die ihr entgegengebrachte Liebe sei ihr viel wichtiger als der ihr entgegenschlagende Hass, sagte sie in einem ORF-Interview vor dem Finale.

Der ESC ist traditionell ein Feiertag für die LGBTQ-Gemeinde. Das Lied, das am Ende auf Platz eins landete, sang eine sich als non-binär verstehenden Person namens "Nemo". Nach der Transfrau Dana International aus Israel 1998 und 2014 der Dragqueen Conchita Wurst aus Österreich ist Nemo die dritte "queere" Person, die den ESC gewinnt. Nemo gehörte zu jenen, die sich vor Malmö den Boykottwünschen gegen Israel und Eden Golan anschlossen.

Merkwürdige Allianzen

Wenn es gegen Juden geht, ergeben sich die merkwürdigsten Allianzen: Gruppen wie die "Queers for Palestine", die in einem Hamas-Palästina vermutlich sehr schnell vom Hausdach gestürzt würden, feiern religiös motivierte Terroristen als antikoloniale Befreiungskämpfer. 

Wie kommt es, dass sich beim Thema Israel vermeintlich "Progressive" im Westen an die Seite von Islamisten stellen, wie auch das Beispiel der prominenten Gender-Theoretikerin Judith Butler zeigt?

Das lohnt einen näheren Blick.

Die sogenannten "kritischen Theorien", Intersektionalismus, "Gender Studies", "Postkolonialismus", "Critical race theory" haben insbesondere an den Universitäten und im Kulturbetrieb für die Verbreitung einer wahnhaften Weltsicht gesorgt. Getrieben ist diese Weltsicht von einer Kraft, die das Gute will (oder zu wollen meint) und dennoch fatale Folgen hat.

Mechanik einer wahnhaften Weltsicht

Die Mechanik dieser "Theorien" geht, vereinfacht gesagt, so: Die Welt ist bestimmt von unterdrückerischen Machtverhältnissen (was sicher richtig ist). Um diese aufzudecken, muss bestimmt werden, wer das Opfer ist (und in welcher Weise) – und wer andererseits der Unterdrücker. Auch das nachvollziehbar. Nur ist diese Analyse leider verbunden mit einem Werterelativismus. Universelle Gültigkeit kann demnach kein Wert, kein Argument beanspruchen. Entscheidend ist stets, wer etwas sagt, die "Sprecherposition". 

Das führt einerseits auf einen Kollisionskurs mit den universell gedachten Menschenrechten (einem Fundament der westlichen Welt). Es führt andererseits zu einem Wettlauf um die Opferposition, weil sie im Rahmen dieser Theorien Macht verspricht. Das Gewand, in dem dieser Wettlauf stattfindet, ist Identitätspolitik oder die Betonung der Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Gruppe. Eine Art neuer "Stammesangehörigkeit" wird wichtiger als das humane allgemeine "Wir". Die politische Rechte betreibt in ähnlicher Weise Identitätspolitik, und die sozialen Medien heizen den gesellschaftlichen Stammeskrieg durch ihre Algorithmen noch an.

Juden sind "Weiße", Palästinenser "PoC"

Diese Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt führt zu Pointen wie der vermeintlichen Erkenntnis, dass weiße Menschen niemals Opfer von Rassismus sein können. Weiße können bei Rassismus zwar Täter sein, aber nie von ihm betroffen. Im Bestreben, Rassismus zu bekämpfen (was, auch das sei ausdrücklich gesagt, richtig und nötig ist), verstetigt solches Denken vielmehr rassistische Vorstellungen. 

Dem gleichen Muster folgend wird der Judenhass islamistischer Gotteskrieger wahnhaft zum antikolonialen Befreiungskampf umgedeutet. Denn obwohl Israel ein auch von den Hautfarben bunter Vielvölkerstaat ist, hat das "Critical Race Theory"-Gebräu die über Jahrtausende verfolgten Juden inzwischen zu "Weißen" (also Unterdrückern) erklärt. Palästinenser werden dagegen sämtlich als "People of Color" (und damit als Unterdrückte) "gelesen". Die antisemitische BDS-Bewegung hat sich dieses krude Denken erfolgreich zunutze gemacht. Nur für kurze Zeit hat der 7. Oktober die Erzählung des grundsätzlichen palästinensischen Opferstatus durchbrochen. Doch inzwischen ist das Narrativ wieder wirksam – und kräftiger denn je.

Den Medienkrieg hat Israel verloren

Den Medienkrieg hat Israel längst verloren. Dass die Hamas am 7. Oktober einen Waffenstillstand gebrochen hat (der nun empört wieder gefordert wird), dass das, was in Gaza geschieht und zu beklagen ist, von einem unvorstellbaren Massenmord an jüdischen Kindern, Jugendlichen und anderen Zivilisten ausgelöst wurde, ist bei vielen weit in den Hintergrund gerückt. So erscheinen diesem Denken "Apartheid"-Vorwürfe gegen ein Land plausibel, in dem muslimische Araber volle Bürgerrechte haben, im Parlament und im höchsten Gericht sitzen. Und es ist auch kein "Pinkwashing" des verfemten Landes, darauf hinzuweisen, dass die einzigen palästinensischen LGBTQ-Organisationen ihren Sitz in Israel haben.

Die Stimme der leisen Mehrheit muss lauter werden

Doch die Blase der Wahnhaften ist zwar laut, aber sie hat keine Mehrheit. Auch das hat der ESC 2024 gezeigt. Die Musikjurys werteten Eden Golans Song nur ins Mittelfeld. Doch die Publikumsabstimmungen in ganz Europa katapultierten das Lied aus Israel am Ende um viele Ränge nach vorn auf Platz 5. Es erhielt aus so vielen Ländern die Höchstwertung wie kein anderer Beitrag. Auch das deutsche Publikum gab Israel die maximal möglichen zwölf Punkte.

Vielleicht ist genau das die eigentliche Botschaft des ESC 2024: Die Europäer haben per Anruf oder SMS ein Zeichen gesetzt. Offenkundig sind weite Teile des Publikums nicht bereit, bei der angestrebten Dämonisisierung Israels mitzumachen. Die Hamas-freundlichen Proteste an den Universitäten, die israelfeindlichen Aktionen aus dem Kulturbetrieb haben keine Mehrheit. Das ist gut. Beruhigend ist es nicht. Es wird Zeit, dass sich die leise Mehrheit dem lauten Wahn endlich auch sichtbar und hörbar entgegenstellt.

Die israelische Sängerin Eden Golan beim Eurovision Song Contest 2024 in Malmö
Eden Golan beim ESC in Malmö

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