In den Bergen, Tälern und Wäldern Bayerns treiben sich allerhand zauberhafte Wesen herum. Und es ereignen sich wundersame Dinge. Nicht nur zur Winterzeit, aber da ganz besonders.
Von Ochsen, die in der Christnacht zu sprechen beginnen, ist die Rede. Oder von Bergleuten mit Zauberkräften, die aus dem unwirtlichen Gebirge allerhand Schätze mitbringen. Von Grenzgängern, deren Schmuggelware zu harmlosem Kamillentee wird. Und natürlich vom Urpercht, der gehörnten Gestalt, die eigentlich eine Frau ist.
Karl-Heinz Hummel sammelt Sagen aus dem Alpenraum
Karl-Heinz Hummel kennt sie alle. Oder zumindest fast alle. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Münchner mit den Sagen und Erzählungen aus dem Alpenraum. "Ich gehe selbst gern in die Berge, soweit es meine Knie noch mitmachen", sagt er. Bei seinen Wanderungen und Bergtouren sind ihm zahlreiche Geschichten erzählt worden. Irgendwann fing er an, sie zu sammeln, aufzuschreiben und auch neue zu erfinden. Allen gemeinsam ist, dass sie nicht aus dem Nichts kommen und meist versuchen, Unerklärliches zu erklären oder zu deuten.
"Das Faszinierende an den Sagen aus der Bergwelt ist, dass es sich dabei oft um einen christlich-heidnischen Mix handelt", sagt Hummel.
Für Naturphänomene und Naturgewalten habe man sich seit Menschengedenken Geschichten ausgedacht, um diese zu erklären oder zu verstehen - egal ob extreme Kälte, Hitze, Dürre, Fluten oder andere Unglücke. Mit Beginn der Christianisierung des Alpenraums wurden die heidnischen Erzählungen mit Elfen, Wetterdrachen und Berggeistern oft um eine christliche Komponente erweitert oder umgeschrieben.
Heidnische Geschichten, christlich angepasst
"Der Geißbock als Figur ist dafür ein gutes Beispiel", sagt Hummel. Denn früher galt das Tier als Zeichen für große männliche Potenz und Anarchie. "Und das war nicht einmal ansatzweise negativ behaftet", berichtet er. Erst im christlichen Zeitalter wurde aus dem Geißbock ein Symbol für den Teufel - und somit auch alles offen oder besser gesagt: übertrieben zur Schau getragene Männliche als Werk des Teufels gesehen. Die Devise war damals: Wenn man die heidnischen Geschichten schon nicht "ausrotten" kann, müssen sie ins neue Weltbild passen.
Im Großen und Ganzen lassen sich die Sagen in vier Ursprungskategorien einteilen, sagt Hummel. Erstens, sie befassen sich mit historischen Ereignissen, zweitens mit zauberhaften Orten, drittens mit Unglücken oder sie dienen - viertens - als Lebenshilfe und Ratgeber. Die Motive in vielen Sagen ähneln sich - übrigens weltweit. So gibt es im Alpenraum die Geschichte von der übergossenen Alm. Die Lebensmittelverschwendung der Senner wird mit Blitzeisregen bestraft und alles erstarrt. "Das Motiv kennt man auch im Himalaya", berichtet Hummel.
Lieblingsmotive des Geschichten-Aufschreibers
Eine wirkliche Lieblingsgeschichte hat der Sagen-Experte nicht - wohl aber einige Lieblingsmotive. Etwa das vom Vieh im Stall, das in der Heiligen Nacht zu sprechen beginnt und die Zukunft vorhersagt. Oder auch das von den Tabakschmugglern im Allgäu, bei denen die Engel alle Ware zu harmlosen Kräutern verwandeln, als sie kontrolliert werden. Oder die Urpercht, "eine Art Frau Holle", sagt Hummel, die sich in einer Zwischenwelt als Kindergärtnerin um die ungetauft verstorbenen Kinder kümmert:
"Eigentlich bietet sie einen Trost-Ort."
Das mag man kaum glauben, wenn man die teils gruslige Maskerade der Perchten heute sieht. "Frau Percht gibt den Kindern ganz sonderbare Namen, ganz eigene Wortschöpfungen, aber im Kern doch liebevoll", sagt Hummel. In der Nacht zu Heilig Drei König zieht Frau Percht mit ihrer Kinderschar durch die Gegend. Deshalb gibt es bis heute den Brauch, in dieser Nacht eine "Semmelmilch" als Mahlzeit in die Stube zu stellen. "Dafür segnet Frau Percht dann das Haus fürs neue Jahr", erzählt Hummel.