Die Nägel haben die Handflächen durchdrungen, Blut rinnt über den Balken des Holzkreuzes. Vor Schmerz krümmen sich die Finger. Der Körper des Gekreuzigten ist mit Wunden übersät, sein Kopf leblos auf die Brust gesunken. Kein Maler des Mittelalters und der frühen Neuzeit hat das Leiden und den Tod Jesu Christi am Kreuz so ungeschönt ins Bild gesetzt wie Matthias Grünewald (1475/80-1528). Die Darstellung der Passion Christi und zentraler Stationen seines Lebens auf den Bildtafeln des Isenheimer Altars ist einmalig in der abendländischen Kunstgeschichte.

In diesem Jahr wird das 500-jährige Bestehen des weltberühmten Kunstwerks gefeiert - es entstand zwischen 1512 und 1516. Und im Festjahr sollte der spätgotische Altar, der im Museum Unterlinden im elsässischen Colmar zu sehen ist, einen neuen Anstrich erhalten. Doch um die Restaurierung der elf Bildertafeln gibt es Streit.

Eine Tafel des Altarbilds wurde von zwei Restauratorinnen im Auftrag des Museums von der obersten Firnisschicht befreit. Zwar leuchten die Farben auf der Tafel, die die Peinigung des heiligen Antonius durch abscheuliche Dämonen zeigt, nun wieder frisch wie am ersten Tag.

Kritiker sind sauer

Doch Kritiker wie die französische kunsthistorische Zeitschrift Tribune de l´Art gehen auf die Barrikaden: Durch unsachgemäße Behandlung, die Abnahme der obersten Lackschichten mit einem Lösungsmittel im Schnelldurchlauf, sei das Werk Grünewalds gefährdet. Auch seien die Restaurierungsarbeiten nicht wissenschaftlich eingebettet.

Das Museum weist die Vorwürfe zurück und hat die Restaurierung unterbrochen. Ziel sei es, die Bilder "wieder lesbar zu machen" , sagt eine Sprecherin. Die Farben, die der Würzburger Maler Grünewald einst mit kostbaren Pigmenten anrührte und in dünnen Schichten auftrug, seien durch die Restaurierung nicht in Gefahr. Im Herbst wolle man über die weiteren Schritte beraten, in drei Jahren soll dann das rundum restaurierte Werk in neuem Glanz erstrahlen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die elf Altartafeln des Wandelaltars mit seinen drei aufklappbaren Schauseiten aufgefrischt werden. Seit 1796 wurden die Tafeln achtmal restauriert und neu versiegelt. Für den Freiburger evangelischen Theologieprofessor und Grünewald-Experten Reiner Marquard stellt sich indes die Frage, ob die geplante neue Verschönerung nicht zu viel des Guten ist. Ihm sei bange, dass "zu dick aufgetragen" werde und das Werk von seiner originalen Faszination einbüßen könnte.

Schocktherapie

Ordensleute aus dem 20 Kilometer südlich von Colmar gelegenen Issenheim (Isenheim) hatten einst den Altar bei dem Bildschnitzer Niklaus von Hagenau und dem Maler Grünewald in Auftrag gegeben. Der durch Spenden zu Reichtum gekommene Hospitaliter­orden der Antoniter pflegte Kranke, die am weitverbreiteten Antoniusfeuer litten. Ursache der Krankheit war eine Lebensmittelvergiftung, der Verzehr von Brot, das den giftigen Getreidepilz Mutterkorn enthielt. Den Erkrankten fielen Finger, Zehen und ganze Gliedmaße ab.

Die Kranken wurden vor Grünewalds Altar geführt - und die überlebensgroßen Bildmotive, die im Verlauf des Kirchenjahres wechselten, müssen wie eine Schocktherapie gewirkt haben, urteilt Marquard.

Grünewalds Darstellung hebt sich von der seiner Vorgänger und Zeitgenossen dadurch ab, dass niemals zuvor der Vorgang auf Golgatha derart schmerzhaft und schockierend als Ereignis von Not und Qual dargestellt wurde.

Thomas Mann sah Grünewalds Altar in München

Von Schmerz verkrampft öffnen sich die Hände Christi gen Himmel; der ungewöhnlich groß dargestellte Nagel, der die Füße am Kreuz befestigt, zerreißt das Fleisch des Spanns, Blut tropft von den Zehen und der Fußunterseite auf das Kreuz hinab.

Der Kopf Jesu ist von einer ungewöhnlich großen Dornenkrone gekrönt und voller Blut und Wunden. Die Lippen sind blau angelaufen; Zunge und Zähne sind sichtbar. Stacheln stecken im Oberkörper und in den Armen als Hinweis auf die erlittene Geißelung. Der Körper weist eitrige Schwären auf, und der gesamte Körper ist in einer grün-gelblichen Färbung gemalt. Das herabfließende Blut, die Dornenkrone und der zerfetzte Lendenschurz kennzeichnen die völlige Zerstörung und Erniedrigung der menschlichen Natur Christi. Die grausame, detailgetreue Darstellung der Leiden war bewusstes Bildprogramm. Es sollte zur "Compassio", zum Mitleiden, auffordern.

Als einzige Person auf der rechten Seite des Gemäldes ist Johannes der Täufer zu sehen. Nach der biblischen Überlieferung war er zum Zeitpunkt des Kreuzestodes Christi bereits tot. Dargestellt ist er hier als Wegbereiter Christi. Er weist mit dem überlangen Zeigefinger auf den toten Christus, und hinter ihm ist eine Inschrift zu sehen. Dort steht: "Illum oportet crescere me autem minui." Es ist eine Stelle aus dem Johannesevangelium (3,30), die übersetzt lautet: "Jenem gebührt zu wachsen, mir aber, kleiner zu werden". Damit wird auch angedeutet, dass das Erlösungswerk Christi vollbracht ist. Die Ankündigungen Johannes des Täufers haben sich erfüllt.

Grünewald hat für die Tafel der Auferstehung Farben und Formen gewählt, die den inhaltlichen Gegenpol zum Kreuzestod unterstreichen. Christus schwebt mit ausgebreiteten Armen aus seinem Grab. Hinter ihm beherrscht ein riesiger Sonnenball das Bild, der zugleich Gloriole ist. Sein Körper, der auf der Kreuzigungstafel noch ein zerrissenes und schmutziges Lendentuch trug, ist jetzt in ein leuchtendes Gewand gekleidet.

Die Publikation zum Altar

Seine größte Nachwirkung hatte der Altar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1908 veröffentlichte Max Jakob Friedländer seine bebilderte Einführung, die neben vielen anderen dem Verleger Reinhard Piper den Anstoß gab, sich mit dem Kunstwerk zu befassen. Im Ersten Weltkrieg wurde der Altar im Winter 1917 aus "Sicherheitsgründen" nach München gebracht, wo er vom 24. November 1918 bis zum 27. September 1919 in der Alten Pinakothek gezeigt wurde. Die Ausstellung war ein überwältigender Erfolg; der Altar wurde zum Sinnbild der deutschen Kriegserfahrung, und Tausende sahen ihn in einer Art "Wallfahrt". Thomas Mann sah den Isenheimer Altar am 22. Dezember 1918 und notierte dazu in sein Tagebuch: "Starker Eindruck. Die Farben-Festivität der Madonnenscene geht mir in süßem Geschiller fast etwas zu weit. Das groteske Elend der Kreuzigung wirkt als mächtiger Kontrast. Im Ganzen gehören die Bilder zum Stärksten, was mir je vor Augen gekommen."

Die Kunstwissenschaft interpretierte den Altar damals als nationales Kunstwerk, das "das deutsche Volk oder Wesen am meisten angeht" und auch die expressionistische Kunst der damaligen Gegenwart beeinflusste. Sein Abtransport zurück nach Colmar im September 1919 wurde zum visuellen Ausdruck der Verluste durch den Versailler Vertrag. Reproduktionen der Kreuzigungsszene hingen über den Schreibtischen vieler Theologen - so verschieden wie Paul Tillich, für den es "eines der seltenen Bilder" ist, "die protestantischen Geist atmen und zugleich große Kunstwerke" sind, und Karl Barth, der "Johannes den Täufer auf Grünewalds Kreuzigungsbild mit seiner in fast unmöglicher Weise zeigenden Hand" zum Inbegriff der Bibel und aller auf Christus bezogenen Theologie machte.

Grünewald war zwar nicht ausdrücklich ein Künstler der Reformation, aber er hatte den jungen Martin Luther für dessen kirchenreformatorisches Programm bewundert. In Grünewalds Nachlass fanden sich reformatorische Schriften. Er hatte wohl auf Veränderungen in seiner Kirche gehofft.