"Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen alle noch schliefen", schrieb Sigmund Freud über den Künstler Leonardo da Vinci. Es gibt kaum einen Künstler, der so universelle Interessen pflegte. Leonardo war Maler, Bildhauer, Baumeister, Schriftsteller, Kunsttheoretiker, Naturforscher und Techniker. Die schrankenlose Neugierde, die Fantasie und Detailversessenheit machten ihn zu einer schillernden Figur seiner Zeit.

Leonardo wurde 1452 in Vinci bei Florenz als uneheliches Kind eines Notars geboren. Warum Leonardo sich für die Kunst entschied, ist nicht überliefert. Einer Anekdote zufolge bemalte er als Jugendlicher ein Schild für einen Bauern mit Tieren – und zwar so realistisch, dass sein Vater erschrak. Der schickte ihn daraufhin nach Florenz zu Andrea del Verocchio in die künstlerische Lehre.

Wunder des Malens

1472 ließ sich der 20-jährige "Leonardo di Ser Piero da Vinci dipintore" in der Liste der Lukas-Gilde als Maler registrieren. Besonders gerne formte er damals Figuren aus Ton, so schildert es später der Architekt, Maler und Künstlerbiograf Giorgio Vasari (1511-1574). Dann bedeckte er die Figuren mit weichen alten Leinen, und setzte sich hin, um die Werke "mit großer Geduld auf einer besonderen Art feinen Reimser Tuchs oder präparierter Leinwand" zu zeichnen. Einige dieser Zeichnungen "gestaltete er in Schwarz und Weiß mit dem Stift oder dem Pinsel zu einem Wunder, wie einige davon, die wir in unserem Zeichenbuch haben, noch bezeugen." Diese Gewohnheit, Zeichnungen anzufertigen, um sich einem Thema anzunähern, sollte er bis zum Lebensende beibehalten.

Zu Leonardos ersten Arbeiten auf Leinwand gehört vermutlich das Abbild eines Engels in einem Taufbild des Meisters Verrochio. Glaubt man Vasari, so war der Lehrherr derart beeindruckt von der hohen Qualität des Bildes, dass er "deshalb von der Zeit an nicht mehr mit Farbe umgehn" mochte und zu malen aufhörte.

Zuschreibung der Gemälde bis heute unklar

Kunsthistoriker streiten bis heute darüber, welche Gemälde Leonardo zuzuschreiben sind – und an welchen er lediglich mitgewirkt hat. Bei der "Verkündigung an Maria", die heute in den Uffizien in Florenz hängt, werden Leonardo etwa die Komposition, der Verkündigungsengel und insbesondere die Naturdarstellungen zugeschrieben. Kein anderes Bild bekräftigt stärker Leonardos Liebe zur Natur. Während die meisten Künstler die Natur als dekorativ-symbolisches Beiwerk verstanden, drücken bei ihm selbst Pflanzen und Landschaften Emotion aus.

Die dunstige Landschaft vor dem Meer, die von weißen Wolken umweht wird, beschrieb Leonardo in seinem Malereitraktat mit den Worten:

"Derartige Horizonte bewirken in der Malerei eine gar große Schönheit das Anblicks. Freilich muss man zu beiden Seiten einige sich hintereinandschiebende Gebirge anbringen, mit gradweise abgetönten Farben, wie es die Ordnung der Farbabnahme in weiten Entfernungen verlangt."

Dieses Interesse für Atmosphäre und optische Effekte zeugt von der neuartigen Naturbetrachtung. Er wollte die Naturgesetze verstehen und natürliche Phänomene ergründen. Das wissenschaftliche und technologische Interesse an der Natur wurde denn auch zu einem der wichtigsten Eckpfeiler der Renaissance.

Der Künstler als Naturkraft

Im Herbst 1478 begann Leonardo mit mehreren Madonnenbildern. Bevor er sie in Öl umsetzte, fertigte er etliche Vorzeichnungen an. Erhalten geblieben ist zum Beispiel die Federzeichnung einer "Madonna mit Kind und Katze", die den Augenblick festhält, in dem eine Katze aus der Umarmung des Kindes zu entweichen droht. Die Zeichnungen boten Leonardo die Möglichkeit, sein Thema grundlegend zu analysieren. Er betrachtete die Malerei nicht als Wiederholung der Natur, vielmehr verstand er den Maler selbst als Naturkraft, der das Werk der Schöpfung fortsetzte:

"Dort, wo die Natur aufhört, ihre Formen hervorzubringen, beginnt der Mensch, mit natürlichen Dingen und mit Hilfe eben dieser Natur, eine unendliche Vielfalt an Formen zu schaffen".

Die Darstellung von Bewegung spielt in Leonardos Gemälden eine herausragende Rolle. In der "Benois-Madonna" in der Eremitage in St. Petersburg zeigt Maria dem Christuskind eine rote Nelke. Mit ungelenken Händen versucht der Säugling nach der Blume zu greifen, konzentriert schaut er auf die Blüte, die auch ein Passions-Symbol ist. Leonardo friert einen kurzen, beiläufigen Augenblick ein. Die Bewegtheit der Szene überträgt sich auf den Betrachter. Das Gemälde weist einige unvollendete Flächen auf. Damit reiht es sich ein in eine lange Liste von Werken, die Leonardo nie fertiggestellt hat.

Zu den unvollendeten Werken gehört auch das Ölbild "Der Heilige Hieronymos", das um 1480 entstand und vermutlich als Altarbild für die Badia in Florenz bestimmt war. Den Heiligen stellt Leonardo als greisen Mann dar, der sich zur Buße in die Wüste begeben hat. Sein Umhang gibt eine magere und knochige Brust frei, auf der eine dunkle Stelle zu sehen ist – eine blutige Wunde, die sich der Büßende mit einem Stein zugefügt hat, den er noch in der ausgestreckten Hand hält. Einziger Zuschauer ist ein Löwe. Er kauert vor dem Heiligen, sein Maul ist aufgerissen. Im Typus der knieenden Figur, in der Haltung des Körpers und in der Physiognomie spiegeln sich zeitgenössische Vorstellungen wieder, die Leonardo später weiterentwickeln sollte.

Anbetung der Heiligen Drei Könige

Ebenfalls fragmentarisch blieb das in Öl und Tempera gemalte Bild "Die Anbetung der Heiligen Drei Könige", das heute in den Uffizien in Florenz hängt. Erhalten geblieben sind auch hier Vorstudien, darunter einige Architekturskizzen, in denen Leonardo nach der richtigen Perspektive  suchte und verschiedene Gebäudeformen ausprobierte. Schließlich teilte Leonardo den Raum in einen  Vorder- und Hintergrund auf. Dadurch konnte er gleichzeitig das Zeitalter vor der Ankunft des Herrn und das Zeitalter der Gnade, also die Geburt Christi, darstellen.

Auch später sollte Leonardo eine Reihe von Werken nicht vollenden. So etwa das monumentale Wandbild der Schlacht von Anghiari, das um 1503 im Großen Ratsaal des florentinischen Palazzo Vecchio entstehen sollte. Der Humanist Paolo Giovio beklagte die "Laune und Unbeständigkeit" Leonardos:

"Seine Begabung strebte so sehr nach dem Vollkommenen, und er war gegen sich selbst so anspruchsvoll, dass er Vieles begann und im Stiche ließ", notierte er in der Viten-Sammlung, die 1527 erschien.

1483 zog Leonardo nach Mailand. Geprägt von seinem humanistischen Menschenbild und einem universellen Erkenntnisdrang erforschte er die verschiedensten Gebiete – darunter Geometrie und Geologie, Hydrologie und Optik, Flugwesen und Anatomie, Hydraulik und Farbenlehre. Am Hof von Ludovico Sforza entwickelte er Konstruktionen für das Reitermonument, organisierte Feste und porträtierte die höfische Gesellschaft – so etwa Cecilia Gallerani, die wichtigste Mätresse des Herrschers, die er mit einem Hermelin auf dem Arm abbildet. Ab 1495 begann Leonardo mit dem Abendmahl im Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand.

Wanderjahre von Leonardo

Durch den Sturz von Ludovico verlor Leonardo seinen bisher mächtigsten Auftraggeber. Nun begannen für den Künstler die Wanderjahre. Der französische König Ludwig XII, der das Abendmahl in Santa Maria delle Grazie gesehen hatte, beauftragte Leonardo im Oktober 1499 mit einem großformatigen Bild. Das Gemälde wurde nie ausgeführt. Einzig ein Entwurf blieb erhalten. Die Heilige Anna und Maria sitzen mit den Kindern Christus und Johannes auf einem Felsen, die lieblichen Gesichter perfekt modelliert.

Diese Bildidee aber sollte Leonardo weiterentwickeln: Das vermutlich als Altarbild konzipierte Ölgemälde "Anna Selbdritt" entstand um 1502 in Florenz und hängt heute im Pariser Louvre. Der Karmelitermönch Fra Pietro da Novellara beschrieb die Komposition,

"worin das etwa einjährige Christuskind dargestellt ist, wie es fast den Armen seiner Mutter entgleitet. Es wendet sich einem Lamm zu und scheint es zu umarmen. Die Mutter, die sich beinahe vom Schoß der heiligen Anna erhebt, hält das Kind fest, um es von dem Lamm zu trennen. (…) … diese Figuren …. finden auf dem kleinen Karton Platz, weil alle entweder sitzen oder gebeugt sind und eine jede nach links hin fast hintereinander gestaffelt erscheint."

An der Komposition hatte Leonardo mehr als zehn Jahre gearbeitet. Sein Aufbau der Figurengruppe in Form einer Pyramide wurde Vorbild für die gesamte italienische Malerei des 16. Jahrhunderts.

Mona Lisa entstand um 1503

Um 1503 begann Leonarado mit der Arbeit an seinem weltberühmten Gemälde, der Lisa del Giocondo. Die detailgetreue Darstellung, die Plastizität der Figur, das kunstvoll inszenierte Licht, das rätselhaft-wissende Lächeln sollten die nachfolgende Porträtmalerei prägen und zahlreiche Künstler inspirieren.

Noch einmal kehrte Leonardo nach Mailand zurück, doch trat er nun immer weniger als Maler hervor. 1513 wurde der inzwischen 61-jährige Künstler an den päpstlichen Hof nach Rom gerufen, wo er zwar auch keine Aufträge als Maler erhielt, doch diverse Experimente durchführte. Seine Forschung zu Ölen und Firnissen boten die Grundlage für eines der letzten Gemälde, das Leonardo zugeschrieben wird: Die Darstellung Johannes des Täufers. Hier entstand die als sfumato bekannte Maltechnik, bei der verschiedene Lasuren übereinander aufgetragen werden, die für sanfte Übergänge zwischen Licht und Schatten sowie für eine hohe Plastizität der Figuren sorgen.

Katzen, Drachen und Pferde im hohen Alter

Aus den letzen Lebensjahren, die er am französischen Hof von Franz I. verbrachte, lassen sich keine Gemälde sicher zuschreiben. Doch sind Zeichnungen von Katzen, Drachen und Pferden erhalten geblieben, die voller Kraft und jugendlicher Frische stecken.

Als er mit 69 Jahren am 2. Mai 1519 im Schloss von Amboise starb, hinterließ er ein riesiges Werk, das die Menschen bis heute fasziniert. Das zeigt auch das jüngste Projekt des Microsoft-Gründers Bill Gates. "Codescope"  macht den "Codex Leicester" über einen Bildschirm erfahrbar: Nutzer können über einen Bildschirm den Codex durchblättern und bekommen eine Übersetzung des Textes und animierte Zeichnungen geliefert. Denn Leonardo sei einer der "innovativsten Menschen der Welt", so Gates.