Unter Hermeneutik versteht man das Muster, die Methode, die jemand benutzt, um Texte zu erschließen und auszulegen, insbesondere religiöse Texte. Das Wort leitet sich vom griechischen Verb hermēneúein ("erklären, übersetzen, verstehen") ab.
"Nur der Liebe kann man die Wahrheit anvertrauen", bringt Rohr es auf den Punkt. Denn es ist so eine Sache mit den heiligen Texten von Juden und Christen: "Wenn man sie Ich-süchtigen, lieblosen oder machtbesessenen Zeitgenossen ausliefert oder Leuten, die niemals wirklich gelernt haben, mit spirituell inspirierter Literatur sachgerecht umzugehen, endet das fast immer in einem Desaster", sagt er und verweist auf Ketzerverbrennungen, Kreuzzüge, Sklaverei, Apartheid und weitere Abgründigkeiten, die man meinte, mit ausgewählten Passagen aus der Bibel begründen zu müssen.
Die Versuchung der Konservativen, die Versuchung der Liberalen
Was also leitet uns, wenn wir die Bibel zur Hand nehmen? Die Karten offenzulegen über eigene Vorverständnisse (und unvermeidliche Begrenztheiten), mit denen sie an die Bibel herangehen, das tun allerdings die wenigsten Prediger und Predigerinnen. Ihre Hermeneutik vermittelt sich sozusagen als Hintergrundrauschen. Das Publikum neigt dazu, die unausgesprochene Hermeneutik ihrer Geistlichen unbewusst für die Norm oder das Ideal zu halten.
Rohr: "Irgendwann sucht man sich Lieblingsprediger, die dieselbe Gemengelage von Vorurteilen pflegen wie man selbst – ohne sie überhaupt als Vorurteile zu erkennen. Das gilt für Progressive wie für Konservative gleichermaßen."
Die "linke" und die "rechte" Versuchung im Umgang mit der Bibel liegen in der einseitigen Hingabe an Wille oder Intellekt. Beides führt zu einem toten Glauben. "Im Allgemeinen machen Leute, die sich konservativ nennen, den Glauben zu einer Sache der Anpassung und Unterwerfung; und die, die sich progressiv nennen, machen den Glauben zu einer bloßen Angelegenheit ihrer subjektiven Vernunft."
Was die Bibel uns nicht sagt
Was also sagt die Bibel – nicht? Auch dieser Frage widmet Rohr ein eigenes Kapitel.
Zum Beispiel sage sie nicht: "Es gibt nur eine einzige unfehlbare Weise, die Wahrheit mitzuteilen." Bester Beleg dafür, so Rohr, ist die Tatsache, dass mit den Evangelien vier Berichte derselben Ereignisse überliefert sind – und diese Berichte in wesentlichen Punkten erheblich voneinander abweichen.
BUCHTIPP
Richard Rohr: "Was die Bibel uns zu sagen hat". Übersetzung: Andreas Ebert.
Originaltitel: What Do We Do with the Bible? Claudius Verlag 2020, 96 Seiten, 12 Euro. ISBN 978-3-532-62843-0
Was nachweislich auch nicht stimme: dass die biblischen Worte frei von menschlichen Irrtümern und Begrenztheiten seien. Rohr hat dabei nicht nur Paulus auf seiner Seite, der freimütig bekennt, dass unser »jetziges« Wissen unvollkommenes Stückwerk ist (1. Korinther 13, 12); sondern auch Petrus, der über eben jenen Paulus schreibt, in seinen Briefen seien »… einige Dinge schwer zu verstehen, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen werden, wie auch die andern Schriften« (2. Petrus 3, 16).
Die Jesus-Spur
Rohr folgt daher der Spur, wie es Jesus mit seiner eigenen Hermeneutik gehalten hat. Und stellt fest:
- dass Jesus weit über jedes »Sola Scriptura« (das reformatorische »Allein die Schrift!« Luthers) hinausgegangen ist
- dass er häufiger aus der eigenen Erfahrung redet, als sich auf frühere Quellen zu stützen
- dass Jesus nichts geschrieben hat, was ihn überdauert hätte, er also die Gefahr und die Gesetzlichkeit von Leuten gekannt hat, die sich »nach dem Buch« richten
- dass er ständig heilige Tabus aufs Korn nimmt und
- dass Jesus »derart grob vereinfachend und naiv ist, dass er die 613 eindeutigen Ge- und Verbote der Bibel gerade einmal auf zwei reduziert: Gottesliebe und Nächstenliebe (siehe Matthäus 22, 34‑40)«.
Aufklärung und Reformation haben für Rohr das Kind mit dem Bad ausgeschüttet, wo sie »Erkenntniswege praktisch auf einen einzigen – den angeblich rationalen/wörtlichen/historischen – reduziert und die Bibel jahrhundertelang weitgehend in diese eine Bedeutungskategorie gepresst« haben. »Solch ein eng geführter Ansatz führt in der Regel zu einer antiquierten Institution, die lieber Rückschau hält, anstatt nach vorn zu blicken.«
Verändern statt verwalten
Rohr plädiert für eine kontemplative Bibellektüre, die sich nicht auf nur einen Erkenntnisweg reduzieren lässt, für mehr »transformative Spiritualität« und weniger »transaktionale Religion«. Denn Letztere belohne eher »individuelle Anpassung und Gruppenzugehörigkeit als Liebe, Dienst an anderen oder eine tatsächliche Veränderung des Herzens«. Eine nicht-kontemplative Bibellektüre verhindere, »auf Tuchfühlung mit der Realität« zu kommen, sich von den Texten irritieren und infrage stellen zu lassen, und produziere stattdessen »egoistische und gruppenegoistische Ideologien«. Ohne Bewusstsein des eigenen Vorverständnisses und der eigenen Begrenztheiten steht eine fromme Lektüre in der Gefahr, immer wieder nur sich selbst zu finden und zu predigen.
Mehr Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen sollten Richard Rohr lesen und was er zu sagen hat beherzigen.
Center for Action and Contemplation
Richard Rohr lebt im spirituellen Zentrum "Center for Action and Contemplation" Albuquerque im US-amerikanischen Bundesstaat New Mexico.
Besucherzentrum:
1823 Five Points Rd. SW
Albuquerque, NM 87105
USA