Mit der Erinnerung an ihre anderen Ersatzheiligen haben es die bayerischen Protestanten leichter. Die Lebensläufe von Luther, Melanchthon und Gustav Adolf von Schweden sind auf mehr oder weniger intensive Weise mit dem heutigen Bayern verbunden, und von der Familie Bach gibt es wenigstens einen fränkischen Seitenzweig. Paul Gerhardt? Fehlanzeige.

Paul-Gerhardt-Gemeinde in München-Laim

Wenn man davon absieht, dass Gerhardts Liedgut sicherlich bereits zu seinen Lebzeiten auch ins evangelische Süddeutschland vordrang und dort schnell populär wurde, dauerte es bis 1942, bis die ganz allgemeine Verehrung hierzulande in eine ganz konkrete Verbeugung mündete. Am Sonntag Kantate gaben die evangelischen Pfarrer und Kirchenvorsteher in München-Laim ihrer Gemeinde den Namen "Paul-Gerhardt-Gemeinde". Eine vormalige Scheune, die der Architekt Theodor Fischer schon 1913 zur Notkirche umgebaut hatte, wurde zur ersten Paul-Gerhardt-Kirche in Bayern. Gerhardt-Lieder hatten Hochkonjunktur: Deutschland befand sich mitten in einem mörderischen Krieg und die evangelische Kirche in einem stetigen Abwehrkampf. Tröstliche Worte, aber eben auch Bekenner- und Zeugenmut waren gefragt. Seit 1956 trägt ein wuchtiger Ziegel(neu-)bau den Namen des Dichters.

Paul-Gerhardt-Kirchen in Augsburg und Nürnberg

Auch bei den Paul-Gerhardt-Kirchen in Augsburg und Nürnberg, die zu Beginn der 1960er-Jahre folgten, entsprang die Namenwahl den Bedürfnissen der Zeit. In Augsburg-Hochfeld und in der Nürnberger Trabantenstadt Langwasser hatten damals Tausende von Flüchtlingen und Vertriebenen eine neue Bleibe gefunden. "Die Lieder von Paul Gerhardt waren bei den Flüchtlingen tief verankert und waren ein verbindendes Element innerhalb der neuen Gemeinde", erinnert sich Karl Heckel, 1964 Gründungspfarrer im Augsburger Stadtsüden. Ähnliches empfanden die Ostpreußen, Schlesier und Siebenbürger in Nürnberg. Dort war schon drei Jahre zuvor nach Plänen des Architekten Franz Reichel die Paul-Gerhardt-Kirche mit ihren charakteristischen zwei Spitztürmen eingeweiht worden.

Paul-Gerhardt-Kirche in Stein-Deutenbach

Vierte im Bunde wurde 1992 eine der architektonisch eigenwilligsten evangelischen Kirchen des 20. Jahrhunderts in Bayern: die Paul-Gerhardt-Kirche im mittelfränkischen Stein-Deutenbach, deren dominierender Baustoff Glas ist. Die Namengebung erfolgte hier eher pragmatisch: Grenzte doch das Gemeindezentrum, in dem bis zur Einweihung der Kirche fast zwei Jahrzehnte lang die Gottesdienste der jungen Gemeinde stattfanden, an den Paul-Gerhardt-Weg.  Weitere Paul-Gerhardt-Kirchen hat der Schreiber dieser Zeilen auf dem Wege der klassischen Recherche nicht ermitteln können. Das muss aber angesichts der erfrischenden Dezentralität des bayerischen Protestantismus nichts heißen.

Paul-Gerhardt-Schulen in Freising und Kahl

Den Kreis der öffentlichen Bauten mit Erinnerungscharakter schließen die Paul-Gerhardt-Schulen. Benannt nach dem märkischen Liederdichter sind in Bayern eine Grund- und Hauptschule in Freising und die Haupt- und Wirtschaftsschule im unterfränkischen Kahl. Der Namenspatron ist dort mit besonderem Bedacht ausgewählt: Träger der Schule, die 1990 von Hanau nach Bayern zog, ist der Christliche Schulverein Kahl e.V., der sich der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz verpflichtet fühlt.

Paul-Gerhardt-Kantorei in Nürnberg

Nun ist die Namensgebung das eine; lebendige Erinnerung ist darin noch nicht inbegriffen. Wie sie aussehen kann, lässt in Langwasser Hans-Willi Büttner erleben.  Der Pfarrer mit Busfahrerlizenz wird heuer zum wiederholten Male mit seiner Gemeinde auf den Spuren Paul Gerhardts im Brandenburgischen unterwegs sein, aber das ist nur eine Gerhardt-Hommage unter vielen. Büttners Lobbyismus für den berühmten Amtskollegen reicht von einem standardisierten Orthografie-Ratschlag bei telefonischen Weg- oder Adressbeschreibungen ("…Gerhardt mit dt!") bis zur Ausstattung des neuen Gemeinderaumes, in dem Woche für Woche die renommierte Paul-Gerhardt-Kantorei und der Posaunenchor "PG brass" proben. Die Nürnberger Künstlerin Dorothea Koch hat ihn mit drei lichtdurchfluteten Ölgemälden ausgestattet, die berühmte Gerhardt-Lieder zum Thema haben. Der neue Raum hat auch einen eigenen Namen, und er ist nicht schwer zu erraten.

Während in der Festschrift zum 25. Kirchengeburtstag Paul Gerhardt praktisch nicht vorkommt (außer einem Chronistenhinweis, dass der Kirchenvorstand anno dazumal die Gemeinde eigentlich lieber "Kreuzkirche" genannt hätte), beginnt das Heft zum 40. Weihefest gleich mit einer ausführlichen theologisch-biografischen Betrachtung Büttners auf den "Spuren des Paulus Gerhardt". Das damalige Jubiläumsjahr bot überdies Gelegenheit, das Kirchenfoyer mit Hinweistafeln zu Leben und Werk Gerhardts auszustatten. Denn die Erinnerung an Paul Gerhardt ist kein Selbstläufer mehr, weiß Büttner: "Wir erleben den Ausklang des klassischen Auswendiglernens von Kirchenliedern und damit den Verlust von Paul-Gerhardt-Texten aus dem Gedächtnis der Menschen." Auf das regelmäßige gottesdienstliche Singen von "O Haupt voll Blut und Wunden" oder "Nun ruhen alle Wälder" muss er indes nicht gezielt achten: "Die Lieder von Paul Gerhardt werden sowieso häufig und gern gesungen."

Die Verbeugung vor Gerhardt lässt Büttner in Langwasser von prominenten Gästen bewerkstelligen: Am Vorabend des 400. Gerhardt-Geburtstages predigt Jürgen Fliege, und im Sommer ist die Berliner Jazzsängerin Sarah Kaiser mit ihren Gerhardt-Vertonungen vor Ort.

Und auch architektonisch sind die Nürnberger den anderen Paul-Gerhardt-Kirchen mindestens eine Nasenlänge voraus. In München hängt immerhin ein Bild in der Sakristei; die Augsburger verfügen über zwei davon sowie über ein eigenwilliges Backstein-Mosaik, aus dem "Ton­steine" herausgelesen werden können, die Liedanfänge von Gerhardt-Liedern ergeben. Langwasser bietet zwei Glasfenster-Zyklen des Kunstmalers Eitel Klein: einen farbigen zur Passionsgeschichte und einen weißen, der das Kirchenjahr mit Texten von Paul Gerhardt skizziert. "Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld" heißt es etwa unter dem Passionsfenster, das ein gebeugtes Lamm unter einem Kreuz zeigt, oder: "Wer hat das schöne Himmelszeit / hoch über uns gesetzt? / Wer ist es, der uns unser Feld / mit Tau und Regen netzt?" unter den Ähren und der strahlenden Sonne auf dem Fenster zum Erntedankfest.

Paul-Gerhardt-Denkmal in der Nürnberger Lorenzkirche

Nun, ein bayerisches Paul-Gerhardt-Denkmal darf zum Abschluss unserer kleinen Umschau nicht fehlen. Es ist höchst unscheinbar und daher kaum bekannt – und absolut anachronistisch, denn es hat seinen Platz ausgerechnet im Gewölbe des berühmten gotischen Hallenchores der Nürnberger Lorenzkirche. Das aber stammt aus dem späten 15. Jahrhundert, dieweilen Paul Gerhardt, wie man weiß, ein Kind des 17. Jahrhunderts war.

Der Hallenchor war in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges ein prominentes Opfer des alliierten Luftkrieges geworden. Beim Wiederaufbau ließen sich acht der zwölf Schlusssteine anhand von Bruchstücken rekonstruieren; die anderen vier entstanden 1952 neu. Und seither blicken hoch oben aus dem Gewölbe Martin Luther, Johann Sebastian Bach, Wilhelm Löhe und Paul Gerhardt dem Volk aufs Haupt. Da sind sie wieder, die evangelischen Ersatzheiligen.