Frauen sind in Kirche und Diakonie eher selten in Führungspositionen zu finden. Das weiß auch Christine Ursel: Sie war viele Jahre als Geschäftsführerin einer diakonischen Einrichtung tätig. Inzwischen arbeitet die Religionspädagogin als Fortbildungsreferentin im Diakonischen Werk Bayern im Diakonie.Kolleg und hat ein eigenes Format entwickelt für Frauen in Führung.
Was sind typische Herausforderungen für Frauen in Führung?
Man kann grundsätzlich und zwei Varianten von Führungshandeln unterscheiden: Führen über Beziehung oder Führen über Strukturen und Themen. Wenn eine Frau über Beziehung führt, wird sie oft nicht ernst genommen. Wenn eine Frau über Strukturen und Themen führt, wird sie oft als wenig menschlich erlebt.
Es braucht beides: Beziehung und Strukturen oder Themen. Führen ohne Beziehung bietet keine Zugehörigkeit an. Und ein Führen nicht über Strukturen und Themen macht alles von persönlicher Verbundenheit abhängig. Es braucht "ARD und ZDF": Aufmerksamkeit, Resonanz, Dialog und genauso Zahlen, Daten, Fakten.
Es ist die Bereitschaft und Fähigkeit zu multirationalem Management notwendig. Ich muss besonders als Führungskraft gleichzeitig verschiedene Domänen im kirchlich-diakonischen Kontext bedienen können: die christliche, die fachliche und die wirtschaftliche Perspektive. Dazu braucht es eine "Vielsprachigkeit" und eine gewisse Leidenschaft für Balanceakte.
Warum gehen Frauen in Führung?
Da gibt es wie bei allen Menschen ganz unterschiedliche Motive. Das psychologische Testverfahren "Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP)" beispielsweise untersucht die berufliche Orientierung, das Arbeitsverhalten, die sozialen Kompetenzen und die psychische Konstitution. Der Bereich der "beruflichen Orientierung" zeigt dabei eine Differenzierung zwischen Leistungsmotivation, Gestaltungsmotivation und Führungsmotivation.
Menschen mit einer hohen Skalenausprägung bei der Leistungsmotivation stellen hohe Anforderungen an die eigene Leistung. Sie sind bereit, sich bei der Verfolgung ihrer Ziele stark zu engagieren und darum bemüht, die eigene Arbeit kontinuierlich zu verbessern. Darin erlebe ich Frauen oft besonders stark und mit einem hohen Anspruch an sich selbst.
Menschen mit einer hohen Skalenausprägung bei der Gestaltungsmotivation zeigen einen starken Willen, durch ihre Tätigkeit gestaltend einzugreifen. Sie sind motiviert, Missstände zu beseitigen und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen. Auch darin sind viele Frauen stark: Sie wollen oft inhaltlich was bewegen.
Beim BIP zeigen Personen mit hoher Ausprägung auf der Skala der Führungsmotivation das starke Anliegen, Führungsverantwortung wahrzunehmen. Sie wirken überzeugend und für ihre Auffassung gewinnend. Sie können andere mitreißen und begeistern. Dieser durchaus kompetitive Aspekt wird manchmal von Frauen weniger favorisiert, besonders wenn ihnen Zugehörigkeit und Verbundenheit als Werte wichtig sind.
Grundsätzlich möchten sich Menschen entwickeln, möchten ihre Potenziale entfalten und sich als selbstwirksam erleben. Dazu kann eine Führungsfunktion ein guter Rahmen sein. Es geht auch und gerade darum, Verantwortung für andere und anderes zu übernehmen.
Welchen Rollenbildern sehen sich Frauen in Führung gegenüber?
Weibliche Modelle für Führung gibt es, oft aber eher als Karikatur:
- Die Amazone, die den griechischen Sagen nach "männergleich" in den Kampf zieht.
- Die Oberlehrerin, die genau weiß, was richtig ist und es richtig machen will und andere berichtigt.
- Die Drachenzähmerin, die anders als der Heilige Georg den Drachen domestiziert, statt ihn zu töten.
- Die Gärtnerin, die den Garten hegt und pflegt und zum Blühen bringt.
- Die Femme Fatal, die verführerisch mit den Waffen einer Frau machtvoll ihre Ziele erreicht.
Gleichzeitig soll die Frau doch dekorativ und demütig sein, auf jeden Fall soll sie keine Angst einjagen. Und: fleißig und sittsam zu sein steht ihr auch gut zu Gesicht. Für machtvolle Frauen gibt es zum Beispiel in der Politik stilprägende Vorbilder, wenn auch nicht so viele.
Und was ziehen Frauen in Führung an?
Allein die Frage, was eine Frau in Führung anzieht, ist ein eigenes Kapitel. Männer wählen den Anzug, manchmal tun es auch die Jeans und das Sakko, wenn es etwas mehr casual sein darf. In der Wirtschaft wird man eher viele Frauen in Führung schlicht und formal im dunkelblauen Hosenanzug finden – das passt für die Kultur in Kirche und Diakonie nur bedingt. Dafür sind farbige Schals bei Führungsfrauen in Kirche und Diakonie oft ein Erkennungsmerkmal, gerne mit ausgewählten Accessoires.
Die "kirchliche Dienstkleidung" hat sich an den Männern orientiert. Der Talar als knöchellange Amtstracht wird von Geistlichen, Richtern und bei festlichen Anlässen auch von Hochschullehrern getragen. Er wurde 1811 durch König Friedrich Wilhelm III. in Preußen für Geistliche, Richter und andere königliche Beamte eingeführt. Wenn auch nicht für Frauen ursprünglich gedacht, ist der Talar trotzdem auch für Frauen – selbst in einer Schwangerschaft – gut geeignet. Der "Lutherrock" hingegen ist vom Schnitt her auf Männer abgestimmt. Frauen in kirchlichen Leitungsämtern müssen sich da was einfallen lassen, dass sie ein vergleichbares Gewand haben, das ihnen auch steht. Da gibt es interessante Varianten.
Wo ist es leichter für Frauen in Führung: In der Kirche oder in der Diakonie?
Beide Bereiche bieten noch einmal eigene Rollenvorbilder: Katharina von Bora und das Lebensmodell der Diakonisse – auch wenn beide in die heutige Zeit übertragen werden müssen. "Den Laden schmeißen", quasi einen mittelständischen Betrieb leiten, pragmatisch und professionell das alltägliche Leben organisieren und zu meistern – das spricht man Katharina von Bora zu. Auch theologisch wird sie ihren Anteil an Luthers Karriere gehabt haben. Immerhin ist ihr jetzt die Straße in München gewidmet, in der das Landeskirchenamt steht.
Die Diakonisse ist ein Rollenbild von qualifizierten und machtvoll agierenden Frauen in der Diakonie in der Zugehörigkeit zu einer starken Gemeinschaft in wechselseitiger Verbundenheit, die oft Führungsverantwortung getragen haben – hoch engagiert, stimmig im Auftreten und wiedererkennbar durch ihre Tracht.
Beide Vorbilder gibt es so nicht oder kaum mehr. Aber sie wirken weiter. In der verfassten Kirche sind Frauen als beruflich Mitarbeitende in den verschiedenen Berufsgruppen inzwischen meist in der Mehrzahl, bei den Führungsstellen sind es dann doch häufiger die Männer, die Leitung wahrnehmen. Extremer empfinde ich das noch bei der Diakonie: Ein Großteil der rund 90.000 Mitarbeitenden in der bayerischen Diakonie sind Frauen; Geschäftsführerinnen oder Vorständinnen sind eher die Ausnahme. Dafür steigen die Zahlen in den mittleren Führungsebenen, etwa Einrichtungsleitungen. Für Kirche und Diakonie gilt: nur wenn genügend Frauen in mittleren Leitungsfunktionen sind, können darauf aufbauend auch genügend Frauen in oberste Leitungsämter kommen.
Welche Rolle spielen eigene Kinder?
Da hilft es, sich einfach mal umzuschauen: Wie viele Frauen in Führungspositionen haben eigene Kinder? Wie viele Männer in Führungspositionen haben eigene Kinder? Für Frauen in Führung sind eigene Kinder oft ein Manko, die Frauen gelten dann als nicht voll belastbar. Sie fallen oft aus mit Schwangerschaft, Mutterschutz, Elternzeit. Für Männer hingegen sind eigene Kinder ein Stabilitätsfaktor, der sich positiv auf die eigene Karriere auswirkt, solange es eine Frau und Mutter gibt, die dies ermöglicht. Zwei Monate Elternzeit für Männer gelten aber zum guten Ton.
Was brauchen Frauen in Führung?
Präferenz und Kompetenz: Ich muss es wollen und ich muss es können (wollen). Es braucht eine Stimmigkeit mit den eigenen Werten und die Bereitschaft, auch vermeintlich unangenehme Dinge aktiv anzugehen, für die ich vermutlich nicht geliebt werde. Das kommunikative Geschick vieler Frauen können sie als Pfund mit einbringen, die Bereitschaft sich weiterzuentwickeln ist in Zeiten wie diesen eine Grundvoraussetzung, ebenso Reflexionsfähigkeit und Innovationsfreude.
Dazu sind geschützte Räume hilfreich, in denen Frauen sich begegnen können, einen offenen Austausch pflegen, sich Anregungen geben und Impulse von außen bekommen, ein Netzwerk aufbauen, das trägt. Für Männer sind solche formellen und informellen Begegnungsflächen selbstverständlicher, weil traditionell geprägt und gepflegt. In der bayerischen Diakonie gibt es ein solches Netzwerktreffen für Frauen mit Leitungsverantwortung, das die Teilnehmerinnen als Resonanz- und Impulsraum sehr positiv für sich und ihre Führungsaufgabe wahrnehmen.
Was ist mit den jungen Frauen?
Manche der jüngeren Frauen mit Führungsverantwortung sehen für sich selbst da keine Notwendigkeit zur initiierten Vernetzung mit anderen Führungsfrauen. Sie leben und gestalten ihr Leben mit oder ohne Kinder – auch mit Führungsverantwortung. Die jüngeren Generationen nach den Babyboomern (gerne mit den Buchstaben x/y/z bezeichnet) gehen vielleicht selbstverständlicher an die Führungsaufgabe heran, wenn sie denn überhaupt in Führung gehen wollen. Oft passt diese berufliche Aufgabe nicht ins eigene Lebenskonzept und zum Fokus auf eine für sie stimmige Life-Balance. Entsprechend wenige junge Frauen (und auch Männer) sind überhaupt interessiert und bereit, eine Leitungsaufgabe anzustreben. Manchmal fehlt es vielleicht auch an Gelegenheiten, sich mit dieser Option ergebnisoffen zu beschäftigen.
Worüber ich mich freuen würde:
Wenn eigene Seminare für Frauen so nicht mehr notwendig wären – und es selbstverständlich wäre, dass Führung in Kirche und Diakonie MENSCHENfreundlich gelebt werden kann. Menschenfreundliche Führungskräfte in der Bandbreite und Buntheit der Diversität – unabhängig von Geschlecht, sexueller Identität, Herkunft, Familienstand, Alter, …
"Führung AHOI?! Leinen los…" - Seminar
Diese mehrteilige Online-Veranstaltung, die ich zusammen mit einer freiberuflichen Kollegin anbiete, richtet sich speziell an Frauen, die für sich klären wollen, ob und wieweit sie in Führung gehen wollen. Bewusst auf Bundesebene angeboten über die Führungsakademie für Kirche und Diakonie in Berlin bieten vier Online-Etappen die Möglichkeit sich biografisch mit einer Führungsoption zu beschäftigen:
- Wo geht es für mich als Frau in Kirche und Diakonie beruflich hin?
- Ist Führung für mich attraktiv?
- Wie kann ich mein eigenes Profil und meine Position stärken und entwickeln?
- Wie kann ich meine eigene Personalentwicklung befördern?
Daran schließt ein Online-Einzelcoaching an, bevor in einem Online-Anschlusstreffen geschaut wird, wie die beruflichen Segel gut gesetzt werden können. Der nächste Durchgang startet am 20. Oktober 2022 – eine kostenlose und unverbindliche Infoveranstaltung findet am 15. September 2022 online statt.