"Gott braucht uns"

"Für mich wichtigstes Thema war die Frage nach der Allmacht Gottes: Wo war Gott in Auschwitz? Warum hat er die Züge nicht angehalten? Wenn er doch alles kann per Knopfdruck (…) Oder hatte er kein Interesse daran? Ich habe lange gerungen, und ich denke, dass es eine falsche Vorstellung ist. Ich habe es auf die Formel gebracht: Gott war sehr klein in dieser Zeit in Deutschland. Er hatte fast keine Freunde und Freundinnen. Und Gott braucht uns." Die Theologin Sölle konstatiert hier eine Erfahrung, die charakteristisch wird für das 20. Jahrhundert: Gott ist weit weg, Gott kümmert sich nicht, Gott existiert nicht. Hinzu kommt die Einsicht, dass die Kirche in ihrer traditionellen Form für eine wachsende Zahl von Menschen diese Erfahrung der Nichtexistenz Gottes nicht beseitigen konnte.

Lebenslauf

Für das junge Mädchen aus gutbürgerlichem Hause, geboren am 30. Septemer 1929 in Köln, gab zunächst die Philosophie des Existenzialismus eine Antwort auf die Frage danach, was wichtig ist im Leben und wie es zu verstehen sei. Als Studentin in den 1950er- Jahren kommen für sie zunehmend die Opfer der Nazi-Diktatur, die Überlebenden der Konzentrationslager und auch die Widerständler in den Blick. Sie beginnt sich mit dem Christentum auseinanderzusetzen, weg vom Zuschauerplatz, hin zur Einmischung und Veränderung. Am Ende dieser Entwicklung steht "das Gesicht eines Menschen, eines zu Tode Gefolterten, vor zweitausend Jahren, der nicht Nihilist geworden war": Jesus Christus als Archetyp von Leidenschaft und Hingabe. Da hatte die junge Studentin bereits von der klassischen Philologie zur Theologie gewechselt, einige Jahre als Lehrerin gearbeitet, dann als freie Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Köln. Sie heiratet, bekommt drei Kinder, schließlich trennt sich ihr Mann von ihr.

Erste Publikation erregt Aufsehen       

In diese Zeit fällt ihr erstes theologisches Buch, das in Fachkreisen für Aufsehen sorgt. "Das Buch geht von der Frage aus, wie ein Mensch mit sich selber identisch werden könne, und es versucht, sie in Beziehung zu setzen zu der anderen, was Christus für unser Leben bedeute." Mit diesen Worten beginnt Dorothee Sölle ihre Theologie der Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem 'Tode Gottes'. Es erschien 1965. Mehrere Verlage hatten abgelehnt, der Kreuz-Verlag schließlich traute sich, den provokanten Untertitel zu übernehmen.

Doch der Germanistin und Theologin ging es nicht um Provokation, sondern um die Themen Heimat und Identität: "Wer bin ich? Wie lebe ich so, dass ich es bin, die dieses Leben lebt?" Sölles Buch ist der Versuch, persönliche Lebenserfahrung und gesellschaftliche Ereignisse zusammen zu denken: Ihre Ehe war gescheitert, sie war alleinerziehende Mutter von drei Kindern, gesellschaftliche Konflikte verschärfen sich, wie z.B. der Umgang mit Deutschlands Nazi-Vergangenheit, die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik, der Vietnamkrieg.

Theologie, Politik und soziales Denken

Dorothee Sölle spricht nicht nur theologisch eine neue Sprache, sie bezieht auch die Dimension der politischen und sozialen Existenz in ihr Denken mit ein. Für die Theologin hatte sich eine Frage immer mehr verschärft: Wie kann man nach den Erfahrungen des Holocaust von einem allmächtigen Gott reden? Kirche und Theologie haben ihr dieses Vakuum nicht füllen können. Für Sölle blieb die Erfahrung vom Ende einer Gewissheit, theologisch gesprochen: Es bleibt die Erfahrung vom "Tode Gottes". Die Rede vom allmächtigen Gott, "der alles so herrlich regieret", war ihrer Meinung nach nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Diese Erfahrung könne nur dadurch aufgehoben werden, dass Christus diese "Leerstelle" besetzt: als Stellvertreter Gottes vor den Menschen und als Stellvertreter der Menschen vor Gott. In dieser gegenseitigen Beziehung wird deutlich, dass Gott in Christus auch ohnmächtig ist - er braucht die Hilfe der Menschen, um erkennbar zu werden.

In ihren Erinnerungen schreibt sie dazu: "Ich wollte nur sagen, dass wir Gott brauchen, aber nicht den Fitzliputzli, der alles von oben arrangiert. Gottes zu bedürfen, so hatte ich von Kierkegaard verstanden, ist des Menschen höchste Vollkommenheit. (…) Ich spürte deutlich, dass Gott, wie Teresa von Avila wohl gesagt hat, 'keine anderen Hände hat als unsere', um etwas zu tun." Die Theologin fand Gott in der Liebe, in den gelungenen Beziehungen zwischen Menschen: "Wenn wir in die Radikalität der Liebe einsteigen (…), dann erscheint in unseren alltäglichen Vollzügen das, was wir 'Gott' nennen."

"Du glaubst an Gott? Das tut der Teufel auch!"

Zwei Jahre später veröffentlichte die Theologin den schmalen Band Atheistisch an Gott glauben - eine erneute Herausforderung an die Traditionalisten! Sölle ging es - ganz diesseitige Theologin - um die weltliche Bedeutung des Begriffes "Gott": "Wer 'Gott' sagt, muss zeigen können, was dieses Wort über Menschen und ihre Verhältnisse aussagt." Sie geht nicht mehr von einem persönlichen, überweltlichen Gott aus, sie setzt dagegen das selbstwidersprüchliche "atheistisch an Gott glauben". Dabei hat sie den Spott Luthers in den Ohren, der sagte: "Du glaubst an Gott? Da tust du auch was Rechtes! Das tut der Teufel auch!"

Glaube versteht sie als "eine Art Leben, das ohne die übernatürliche, überweltliche Vorstellung eines himmlischen Wesens auskommt, ohne die Beruhigung und den Trost, den eine solche Vorstellung schenken kann". Eine Art Leben also, in dem trotzdem an der Sache Jesu in der Welt festgehalten wird. Ihr Bekenntnis: "Gott braucht uns, und wir brauchen Gott." Glaube und Praxis, Frömmigkeit und politisches Handeln gehören für Dorothee Sölle eng zusammen. Aus diesem Bewusstsein heraus war auch das "Politische Nachtgebet" entstanden, das die Theologin über Fachkreise hinaus bekannt machte. Erstmals fand es auf dem Katholikentag 1968 in Essen statt. Zuvor hatte bereits eine Gruppe von evangelischen und katholischen Theologen mit einer Prozession durch die Kölner Innenstadt Aufsehen erregt. Auf ihrem Plakat stand: "Vietnam ist Golgatha." Das Motto der Gruppe: Jeder theologische Satz muss zugleich ein politischer Satz sein.

"Politisches Nachtgebet"

Die Beachtung war gross, denn damals war die Öffentlichkeit solche Aktionen von Christen nicht gewohnt. Die Organisatoren des Essener Katholikentags schoben die Veranstaltung der Gruppe auf 23 Uhr - so entstand der Name "Politisches Nachtgebet" und eine Bewegung, die weit über Köln hinaus wirkte. Die Nachtgebete waren eine Mischung aus traditionellen liturgischen Elementen, Gebet und Gesang sowie politischer Information und Diskussion. Die Themen reichten von Baader-Meinhof bis zur Emanzipation der Frauen. Bis zu 1000 Menschen kamen zu den "Nachtgebeten" in die Antoniterkirche. Zum Vorbereitungskreis gehörte auch der Benediktinermönch Fulbert Steffensky. Er wird Sölles zweiter Ehemann, mit dem sie 34 Jahre verheiratet war und eine Tochter hat. "Sie war eine gegensätzliche Frau", so Steffensky. "Sie war eine ebenso sanfte Frau, die sonntags in die Kirche gegangen ist, im Kirchenchor gesungen hat, Klavier gespielt hat, die Blumen geliebt hat. Und sie war eine zornige Frau. Und Zorn ist eine Begabung des Herzens. Wer Unrecht sieht und nicht zornig ist, der ist verstümmelt, und sie konnte sehr in Rage geraten, ja."

Ihre Habilitation an der Uni Köln kann sie 1971 abschließen, ein Lehrstuhl an einer deutschen Universität bleibt ihr jedoch verwehrt, zu krass wich sie - immer politisch links - von Positionen der evangelischen Kirche ab. Die Amtskirche distanzierte sich von Sölle, als diese 1983 auf der Vollversammlung des Weltkirchenrats in Vancouver den westlichen Kirchen "Militarismus" und eine "Apartheidsideologie" gegenüber der Dritten Welt vorwarf. Professorin war Sölle inzwischen doch geworden: Von 1975 bis 1987 lehrte sie am Union Theological Seminary in New York. Dazu kamen immer wieder einzelne Lehraufträge an deutschen Universitäten, Mainz, Kassel, auch Basel.

Keine Karriere in deutschen Kirchen

Mit ihren Positionen konnte sie in der deutschen Kirche keine Karriere machen. Sölle pendelte zwischen Deutschland und den USA, schrieb Bücher, reiste durch das Land, trat vor Frauengruppen in einer Dorfgemeinde ebenso auf wie vor großem Publikum auf Kirchentagen. Inspiriert von lateinamerikanischen Befreiungstheologen wie Leonardo Boff und Ernesto Cardenal, reiste Sölle auf Einladung der sandinistischen Bewegung nach Nicaragua, später besuchte sie auch El Salvador. Sie solidarisierte sich mit den erniedrigten, hungernden, rechtlosen Menschen und vertrat offensiv ihre Belange. Die Theologie der Befreiung war für sie ein deutliches Zeichen, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können und dass es nicht Gottes Wille war, dass sie leiden müssen. Aus der Bibel heraus können Menschen für ihre Befreiung kämpfen. Sölle forderte konsequente Abrüstung, weltweit, und ihr Land, Deutschland, sollte damit beginnen. Gemeinsam mit Heinrich Böll nahm sie an Sitzblockaden vor dem Pershing-II-Raketendepot in Mutlangen teil und später mit dem Theologen Helmut Gollwitzer vor dem US-Giftgas-Depot in Fischbach. Zweimal wurde sie wegen "versuchter Nötigung" verurteilt, die Urteile wurden zum Teil später aufgehoben. Dorothee Sölle, die Bürgertochter, Professorin, Mutter, war bereit zur radikalen Verbrüderung mit den Unangepassten und den Verlierern der Gesellschaft.

Krankheit

1993 wird Dorothee Sölle schwer krank. Langsamkeit und Geduld werden ihre Prüfsteine. Zwei große Buchprojekte entstehen in den kommenden Jahren: die Lebenserinnerungen Gegenwind und Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei. Die Theologin suchte nach der Tiefe des religiösen Empfindens, nach dem Einssein mit allem Lebendigen: "vom baum lernen / der jeden tag neu / sommers und winters nichts erklärt / niemanden überzeugt / nichts herstellt / einmal werden die bäume / die lehrer sein / das wasser wird trinkbar / und das lob so leise / wie der wind an einem septembermorgen."

IN "MYSTIK UND WIDERSTAND" durchstreift Sölle alte - nicht nur christliche - Schriften, Literatur und Erfahrungen nach Botschaften, wie Mystisches sich integrieren ließe ins irdische Dasein. "Es ist das mystische Element, das mich nicht loslässt. Es ist die Gottesliebe, die ich leben, verstehen und verbreiten will. Sie scheint mir [in Kirche und Theologie] wenig gefragt; was innerhalb der evangelischen Theologie und Predigt abgekürzt "Evangelium" genannt wird, artikuliert bestenfalls, dass Gott uns liebt, beschützt, neu macht, errettet. Dass dieser Vorgang nur dann real erfahrbar ist, wenn diese Liebe, wie jede wirkliche Liebe, gegenseitig ist, ist selten zu hören. Dass Menschen Gott lieben, beschützen, neu machen und erretten, klingt den meisten größenwahnsinnig oder gar verrückt. Es ist aber gerade diese Verrücktheit der Liebe, von der die Mystiker leben."

Bis kurz vor ihrem Tod im April 2003 ist sie unterwegs, hält Vorträge, singt im Kirchenchor, schreibt Gedichte. Ihr Mann Fulbert Steffensky schreibt in seinem "Nachwort zu einem Leben": "Ihre Gelassenheit in allem Zorn hatte einen Grund, den sie in ihrem letzten Vortrag so formulierte: 'Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.' Das ist die köstlichste Formulierung dessen, was wir Gnade nennen."