In der Ferdinand-von-Miller-Realschule in Fürstenfeldbruck ist gerade Pause. Auf den Fluren tummeln sich Teenager aller Religionen und Nationalitäten. Mädchen mit Kopftuch, farbige Schüler, deutsche Jugendliche, Kids mit türkischem Migrationshintergrund. Rassismus gebe es hier zum Glück nicht, versichert der 15-jährige Niko. Heute warten er und rund 180 weitere Schüler der 10. Klassen auf Abba Naor, einen der letzten Überlebenden aus dem Konzentrationslager Dachau.

Dann ist Abba Naor da. Ein Mann von kleiner Statur, der trotz seines hohen Alters energisch wirkt. Er beginnt zu erzählen. Von Litauen, dem Land, in dem er geboren wurde. Von der Stadt Kaunas, wo er mit seinen Eltern und den beiden Brüdern – der eine zwei, der andere 14 Jahre alt – zunächst eine unbeschwerte Kindheit erlebte. "Wir waren eine ganz normale Familie. Mein Vater hatte in der litauischen Armee gekämpft, war bei der freiwilligen Feuerwehr. Von Politik und dem, was um uns herum passierte, hatten wir Kinder keine Ahnung." Das änderte sich schlagartig mit Hitlers Überfall auf Russland am 22. Juni 1941.

Von 60.000 jüdischen Kinder aus Litauen überlebten nur 350

Um sich vor den Bombardierungen zu schützen, floh Naors Familie zunächst zu Fuß ins 80 Kilometer entfernte Vilnius und versteckte sich dort in einem Keller, bevor sich ihr Vater entschloss, nach Kaunas zurückzukehren. Doch dort war nichts mehr wie zuvor. Als Abba Naor sich dem Elternhaus näherte, schrie die Nachbarin, die er bislang nur freundlich kannte: "Aha, die Juden kommen zurück." Daraufhin, so Naor, seien sie bei einer Tante untergekommen. Einige Tage später mussten sie ihre Wohnung verlassen und in eines der beiden umzäunten Ghettos umziehen. Naor schildert den Alltag dort.

Erzählt davon, wie Eltern ihre Kinder zum Einkaufen schickten. Weil sie dachten, ihnen könne nichts geschehen. 26 wurden geschnappt und erschossen. Unter ihnen war auch Abba Naors älterer Bruder. "Wir wollten das nicht glauben und hofften lange, dass er eines Tages zurückkommen würde." Sie warteten vergebens. "Von ursprünglich 60.000 jüdischen Kinder aus Litauen überlebten am Ende nur 350. Ich war eines davon..."

Die kleinen Kinder wurden lebendig in die Gruben geworfen

Am 28. Oktober 1941 mussten sich alle Ghettobewohner auf einem Platz versammeln. Dann begann die Selektion. "Die Männer, die über Leben und Tod zu entscheiden hatten, haben nur nach rechts oder links gezeigt. An diesem Tag wurden fast 10.000 nach rechts geschickt." Er habe gehört, dass die Leute erst Gruben ausheben mussten und dann erschossen wurden. "Einzig die kleinen Kinder hat man verschont. Die hat man nicht erschossen", die Schüler atmen durch, "... die hat man lebendig in die Gruben geworfen." Entsetzen in den Gesichtern der Jugendlichen. Abba Naor mutet ihnen viel zu. "Ich frage mich immer, glaubt ihr mir das? Dass ein Mensch so zu einem anderen Menschen ist? Dabei erzähle ich euch nur einen Bruchteil von dem, was ich erlebt habe."

Dazu zählen auch seine Erinnerungen an die Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern. Am 26. Juli 1944 musste Naor im KZ Stutthof, heute Polen, mit ansehen, wie seine Mutter und sein jüngster Bruder in einer Kolonne abtransportiert wurden. "Sie kamen nach Auschwitz und wurden am selben Tag vergast", sagt er tonlos. Er hakt nach. "Was geschah im Juli 1944 noch? Weiß es jemand?", schaut er in die Runde. "Warum frage ich das? Ganz einfach. Wenn der Attentatsversuch von Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 geglückt wäre, wären meine Mutter und mein kleiner Bruder nicht mehr vergast worden." Ein Gedanke, der ihn sichtlich schmerzt.

Am 2. Mai 1945 wurde Abba Naor von der US-Armee befreit

Das letzte Kapitel seiner Odyssee sei der neuntägige Todesmarsch an die Schweizer Grenze gewesen. Viele Bilder haben sich in seinem Kopf eingebrannt. So wie die von dem toten Pferd am Straßenrand, aus dem Mitgefangene von ihm mit bloßen Händen versucht hätten, Fleisch zu reißen und zu essen. Einige wurden dabei erschossen. Am nächsten Tag, dem 2. Mai 1945, wurde Abba Naor von der US-Armee unter General Dwight D. Eisenhower befreit.

Naor packt seine Unterlagen zusammen. Er muss zu seinem nächsten Termin. In der Gedenkstätte von Dachau warten Mary Jean Eisenhower und Merrill Eisenhower Atwater auf ihn, Enkelin und Urenkel von General Eisenhower, dem späteren US-Präsidenten. Für Naor ein ganz besonderer Moment: die Nachkommen des Mannes zu treffen, der ihm seine Freiheit schenkte – genau an dem Ort, an dem er so gelitten hat.

Buchtipp

Abba Naor: "Ich sang für die SS – Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst", C.H.Beck Verlag