Der Anstoß zur geschichtlichen Aufarbeitung liegt über 20 Jahre zurück. Kurz nach seinem Eintritt ins Kloster traf Pater Cyrill Schäfer 1994 auf zwei jüdische Ärzte aus Amerika, die sich das Klostergelände ansahen. Sie waren zwei von über 400 Kindern, die kurz nach Kriegsende auf der Geburtsstation von St. Ottilien das Licht der Welt erblickt hatten. "Diese Männer erzählten mir dann die Geschichte des Camps von Sankt Ottilien", sagt Pater Cyrill.

Die Begegnung ließ den jungen Mönch nicht mehr los und leitete ein Umdenken im Kloster ein. "Bis dahin waren die Jahre 1945 bis 1948 als eine Art ›Betriebsunfall‹, als unliebsame Unterbrechung des Klosterbetriebs betrachtet worden", erinnert sich Cyrill Schäfer – obwohl der jüdische Friedhof direkt neben dem Klosterfriedhof liegt, eine sichtbare Mahnung an die drei Lager-Jahre für Displaced Persons (DP).

Schirmherrin Charlotte Knobloch

In Kooperation mit dem Jüdischen Museum München und dem Lehrstuhl für jüdische Geschichte der LMU ist nun eine umfangreiche Dokumentation entstanden, eine Fotoausstellung und ein Gedenkweg auf dem Klostergelände. Schirmherrin des Gesamtprojekts ist Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.

 

Erzabtei St. Ottilien.
Auf den weitläufigen Feldern rund um die Erzabtei betreiben die Mönche Ackerbau, Rinderzucht, Milchwirtschaft, Schweinemast und einen Hühnerhof.

 

Dass St. Ottilien zum DP-Lager wurde, ist einem folgenschweren Fehler der allierten Streitkräfte geschuldet. Im Glauben, einen deutschen Zug zu bombardieren, trafen sie Ende April 1945 am Bahnhof Schwabhausen Waggons mit Häftlingen aus den Kauferinger KZ-Außenlagern. "150 Menschen sind gestorben, und es gab viele Schwerverletzte", berichtet Evita Wiecki vom Lehrstuhl für jüdische Geschichte.

Wohin mit den Überlebenden? Das nahe gelegene Kloster St. Ottilien bot sich an: Seit 1941 nutzte die Wehrmacht die enteigneten Gebäude als Lazarett. Im April 1945 war das Krankenhaus mit über 1000 verwundete Wehrmachtssoldaten belegt. Es muss eine surreale Situation gewesen sein: Die NS-Opfer bekamen einen eigenen Saal, in den Nachbarzimmern wurden NS-Soldaten von zwangsverpflichteten Nonnen gepflegt.

"Die deutschen Soldaten wurden aber bald darauf verlegt, so dass aus den Krankenhaus-Insassen dann ein rein jüdisches DP-Lager entstand", sagt Forscherin Wiecki. Rasch entwickelten die Bewohner alle nötigen Alltagsstrukturen: eine Betstube, einen Kindergarten und eine Talmudschule, eine koschere Küche, Sport- und Schachklub, Berufsausbildungskurse und politische Parteien.

 

Tallit und Kruzifix auf Holzkarren.
Für die Fotoinstallation arrangierte der israelische Fotograf Benyamin Reich jüdische und katholische Gegenstände wie hier den Tallit und das Kruzifix auf dem Holzkarren. "Die Vorstellung, das Shoa-Überlebende im katholischen Kloster wohnten, war für mich surreal", beschreibt der Sohn ultra-orthodoxer Juden die Arbeit in St. Ottilien.

 

Vier Besonderheiten unterscheiden laut Evita Wiecki das DP-Lager St. Ottilien von anderen Camps. Erstens: Die Klosterbewohner klinkten sich nicht, wie andere DP-Camps, ins zentrale jüdische Selbstverwaltungssystem ein. "In den Unterlagen finden wir aus Sankt Ottilien immer nur den Vermerk: ›no report‹",    berichtet die Wissenschaftlerin – für sie ein Nachweis dafür, wie selbstständig die Gemeinschaft in Ottilien lebte.

Auch die Dreiecksbeziehung von jüdischen Überlebenden, katholischen Mönchen und amerikanischem Militär gab es sonst nirgends. Als Mittler zwischen jüdischen Bewohnern und den ab 1945 zurückkehrenden Mönchen wirkten vor allem die Klosterschwestern, die auf der Krankenstation arbeiteten, weiß Pater Cyrill aus Erzählungen älterer Mitbrüder. Unter die Skepsis gegenüber den fremden Hausgästen mischte sich wohl auch Neugier: Bei jüdischen Festen waren manchmal Mönche als Zaungäste am Rand dabei.

DP-Camp Orchester und erster Talmud-Druck auf deutschem Boden

Außerdem formierte sich in St. Ottilien ein Orchester aus Holocaust-Überlebenden, das mit seinem "Liberation Concert" im Mai 1945 Geschichte schrieb und in der Folge in zahlreichen anderen DP-Camps auftrat. Die vierte Besonderheit ist ein Buch: "In St. Ottilien wurde 1946 ein Talmud gedruckt – das war der erste hebräische Druck auf deutschem Boden in der Nachkriegszeit", sagt Kuratorin Jutta Fleckenstein vom Jüdischen Museum München.

 

Fotoinstallation Sankt Ottilien.
Fotoinstallation über die jüdische Geschichte des Benediktinerklosters Sankt Ottilien.

 

Diesen Talmud und andere Überreste aus der DP-Zeit hat der israelische Fotograf Benyamin Reich auf dem Klostergelände in Szene gesetzt und so eine künstlerische Installation über die Jahre 1945 bis 1948 geschaffen. Für den Sohn einer ultra-orthodoxen jüdischen Familie war die Vorstellung, dass Shoa-Überlebende in einem katholischen Kloster wohnen, surreal.

"Eine Kirche zu betreten, ist für ultra-orthodoxe Juden verboten, es ist fast wie ein Übertritt zum Christentum", erzählt er, der selbst das väterliche Verbot als Kind aus Neugierde unterlaufen hatte. Das Foto-Projekt in St. Ottilien habe für ihn einen Kreis geschlossen, sagt Reich – und ihn überdies an seine Großeltern erinnert, die selbst in einem DP-Camp geheiratet hatten.

Star-Geigerin Anne-Sophie Mutter gibt Gedenk-Konzert

Neben Reichs Fotoausstellung, die bis 23. September im Jüdischen Museum München zu sehen ist, findet in St. Ottilien vom 10. bis 12. Juni ein internationales Symposium zur DP-Geschichte des Kloster statt. Teil des Gedenkjahres ist auch ein Erinnerungsweg, der Besucher an elf Stationen auf dem Klostergelände über die Geschichte des DP-Lagers informiert. Höhepunkt wird ein Konzert mit der Star-Geigerin Anne-Sophie Mutter: Am 23. September spielt sie in Erinnerung an das Befreiungskonzert des DP-Orchesters in der Erzabtei.

 

Krankenbett aus der Zeit des DP-Camps.
Krankenbett aus der Zeit des DP-Camps.

 

Neben den Hochkarätern aus Wissenschaft und Kultur geht der stille Mönch Cyrill fast unter. Dabei hat der Verlagsleiter des klostereigenen EOS-Verlags in akribischer Kleinarbeit auf einer lesenswerten Internetseite alle Dokumente und Bilder versammelt, die er über die Klosterjahre 1945 bis 1948 finden konnte. Herzensanliegen des Paters ist es, ein Netzwerk für die im DP-Lager geborenen Kinder auf- und Hemmschwellen abzubauen. Der Ort der eigenen Geburt sei emotional besetzt, viele DP-Kinder seien jetzt um die 70 Jahre alt und wollten ihren eigenen Kindern zeigen, wo sie zur Welt kamen.

"Aber viele Anrufer sind unsicher, ob sie als Juden in einem katholischen Kloster willkommen sind", sagt der Ordensmann,  "Wir möchten signalisieren: Sie sind sehr willkommen", betont Cyrill Schäfer.

 

Veranstaltungs-Tipps

Gedenkjahr St. Ottilien: Kloster und DP-Camp

Die Installation »Sankt Ottilien – das Benediktinerkloster und seine jüdische Geschichte 1945-48« des israelischen Fotografen Benyamin Reich ist bis 23. September im Foyer des Jüdischen Museums München (Jakobsplatz 16) zu sehen. Ebenso lang läuft die Ausstellung in der Galerie des Klosterladens St. Ottilien.

Anmeldungen für geführte Rundgänge auf dem Klostergelände unter Tel. (089) 2 88 51 64 23. Das vollständige Programm mit Infos zu Symposium und Konzert findet sich unter www.sankt-ottilien.org

Die Internetseite von Pater Cyrill Schäfer zeigt historische Fotos und Dokumente: www.dphospital-ottilien.org