Meinen Haushalt habe ich in einen einzigen Koffer gepresst. Ein Monstrum, gefüllt mit Tassen, Bettwäsche, Unterhosen. Nie hätte ich eine funktionierende U-Bahn dringender gebraucht. Genau an diesem Tag fährt sie nicht. Ein Streik legt den Pariser Nahverkehr lahm. Also ziehe ich meinen Hausrat quer durch die Stadt, von Bahnhof zu Bahnhof. Mein eigentliches Ziel: die Normandie. Die Reise dorthin ist lang, nervenaufreibend, mühsam. Genau so will ich es. Alles soll mir das Gefühl geben: Junge, jetzt bist du weg von daheim und kommst so leicht nicht mehr zurück.

Es ist im August 2008, als ich mich Frankreich ausliefere. Seinen Menschen, seiner Kultur, seiner Sprache. Für zwölf Monate. Nachdem ich am Bahnhof Saint-Lazare in den Zug Richtung Caen gestiegen bin, verbanne ich alle deutschen Bücher auf den Boden meiner Umhängetasche. Dort sollen sie bleiben. Ich setze mir Kopfhörer auf, höre Aznavour und Piaf in Dauerschleife. Jemand hat mir gesagt, so ein Auslandsjahr im Studium sei nur Party. Es würden sowieso alle Englisch reden. Ich bin überzeugt: Bei mir wird es anders.

Sprache ist Liebe

Zwölf Monate will ich in französischer Sprache baden. Doch es dauert keine zwölf Stunden, bis ich schwach werde. "Schau, Mama, do is mei Briafkasten", schallt es am nächsten Morgen in feinstem Bairisch durchs Treppenhaus meines Wohnheims. Ich folge den vertrauten Klängen ins Erdgeschoss, denke an mein Vorhaben, in diesem Land niemals Deutsch zu sprechen, denke krampfhaft an Baguette und Camembert, an Brigitte Bardot, an Voltaire, sogar an Nicolas Sarkozy – doch es hilft alles nichts. Wie ferngesteuert formen meine Lippen, als ich die Studentin mit ihrer Mutter erblicke, ein sanftes, aber klares "Servus". Mein Vorsatz ist dahin. Es folgen zwölf Monate Deutsch, Englisch, Spanisch und, immerhin, auch sehr viel Französisch. Sprachverwirrung statt Sprachreinheit.

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