Herr Kaminski, Sie wechseln ins Spirituelle Zentrum St. Martin in München, was wird dort Ihre Aufgabe sein?

Michael Kaminski: Ich werde im Spirituellen Zentrum St. Martin die Pilgerarbeit koordinieren. Dazu gehört zunächst, die Pilgerangebote, die es im evangelischen Kontext im Raum München und zum Teil auch in Südbayern gibt, zu bündeln und sichtbarer zu machen. Neu ist schon jetzt, dass es ab März einen regelmäßigen Pilgertreff geben wird, zu dem auch Vorträge und Austausch geplant sind.

Als zweiter Schritt ist geplant, nach dem Vorbild des Pilgerzentrums in St. Jakob in Nürnberg, eine Informationsstelle für PilgerInnen aufzubauen. Dort wird es vermutlich ab Herbst regelmäßige Beratungszeiten geben, in denen ich und ein Team von Ehrenamtlichen für die Pilgerwilligen zur Verfügung stehe. Dabei geht es um sachliche und organisatorische Beratung, aber eben auch um das eine oder andere seelsorgerliche Gespräch. In diesem Zusammenhang sind Segnungen zum Pilgeraufbruch und Segnungen nach der Heimkehr vorgesehen, dafür wird es spirituelle Formen geben. Außerdem wird eine kleine Pilgerbibliothek aufgebaut.

Im Spirituellen Zentrum sollen auch wieder Pilger und Pilgerinnen übernachten können.

...und perspektivisch?

Kaminski: Der dritte Schritt, für das Frühjahr 2021 geplant, ist, dass im Spirituellen Zentrum St. Martin auch wieder Pilger und Pilgerinnen übernachten können. Das heißt, ich werde auch Herbergsvater und baue ein Team auf, die diese gastgebenden Aufgaben übernimmt. Neben diesen Entwicklungen werde ich wie in den letzten Jahren weiterhin thematische Pilgerangebote für Gruppen aus Menschen in bestimmten Lebenssituation anbieten, also beispielsweise für Trauernde, Menschen rund um den Ruhestand, Sinnsuchende. In diesem Zusammenhang werde ich auch weiterhin an der landeskirchlichen PilgerbegleiterInnen-Qualifizierung mitwirken und jährlich bis zu 20 Menschen zu PilgerbegleiterInnen ausbilden.

Wer lässt sich zum Pilgerbegleiter ausbilden?

Kaminski: Diese Qualifizierungsmaßnahme gestalte ich gemeinsam mit dem Pilgerpfarrer Oliver Gußmann sowie der Pilgerbegleiterin Maria Rummel für die Landeskirche. Der im März 2020 beginnende Kurs wird mein siebter sein, das bedeutet, dass ich in diesem Rahmen 120 PilgerbegleiterInnen mit ausgebildet habe. Nicht alle üben jetzt auch diese Tätigkeit aus und nicht alle, die es tun, sind im Kontext der evangelischen Kirche unterwegs. Freilich bilden wir auch Hauptberufliche, vor allem PfarrerInnen, ReligionspädagogInnen, DiakonInnen, aus. Andere sind Ehrenamtliche, manche kommen auch nicht aus dem kirchlichen Kontext, sondern sind beispielsweise UmweltpädagogInnen oder StadtführerInnen, die ihr Angebotsrepertoire erweitern wollen. Alle verbindet, dass sie begeisternde und bewegende Pilgererfahrungen gemacht haben und diese auch anderen Menschen ermöglichen wollen.

"Es handelt sich also um einen wichtige Auftrag der evangelischen Kirche, die die PilgerbegleiterInnen übernehmen: Menschen in Lebensumbrüchen zu begleiten."

Was genau sind deren Aufgaben?

Kaminski: PilgerbegleiterInnen organisieren im kirchlichen Kontext und oft auch darüber hinaus ein- oder mehrtägige Pilgerwege, die sie dann mit Gruppen zu bestimmten Themen begehen. Die Begleitung bezieht sich nicht nur auf Wegführung und organisatorische Belange, es geht zusätzlich darum, die Pilgernden in ihren inneren Prozessen zu begleiten. In der Regel machen sich Menschen zum Pilgern auf, die in einem Lebensumbruch, in einer Krise sind, eine Sehnsucht spüren oder auf der Suche sind, nach sich selbst oder nach Gott. In diesen Wandlungsprozessen ist es gut, dass Menschen begleitet werden: manchmal unter dem Aspekt der Bildung und Persönlichkeitsentfaltung, manchmal auch seelsorgerlich und spirituell. Es handelt sich also um einen wichtige Auftrag der evangelischen Kirche, die die PilgerbegleiterInnen übernehmen: Menschen in Lebensumbrüchen zu begleiten.

Hat sich Pilgern über die Zeit hinweg gewandelt?

Kaminski: Entsprechend hat sich das christliche Pilgern über die Zeit verändert. Früher war es eher katholisch geprägt und diente der Sündenvergebung oder der Erfüllung eines Gelübdes. Auch heute gibt es noch die großen Wallfahrten, die durch Gebete und Gesänge strukturiert sind und zu lokalen Wallfahrtszielen führen. Die Pilgernden auf Jakobswegen sind eher individueller unterwegs, Gemeinschaften bilden sich dann auf dem Weg.

Das, was Pilgernde über Wochen, zum Beispiel auf dem Jakobsweg, erleben - persönliche Entfaltungsmöglichkeiten in einem spirituell geprägten Rahmen, Freiheit und Gemeinschaft gleichermaßen, neue Perspektiven, Lösungen, die sich bilden – kann auch im Rahmen kleinerer Pilgerwege erlebt werden, wenn sich entsprechend Gleichgesinnte zusammentun und von PilgerbegleiterInnen angeleitet und begleitet werden. Geblieben ist per Definition, dass Pilgern der Weg zu einem heiligen Ort ist. Ob man das Heil jedoch erst am Ziel erfährt oder bereits auf dem Weg, ist individuell verschieden.

Wer pilgert heutzutage und warum?

Kaminski: Pilgern ist eine spirituelle Übung, die in jeder Religion Raum hat. Wege zu heiligen Orten gibt es überall, unterschiedlich ist wohl, was einen heiligen Ort ausmacht. Die Menschen, die sich auf die heute sehr populären Jakobswege machen, kommen aus aller Herren Länder, sind Menschen jeden Alters. Was sie verbindet, ist, dass sie in Umbrüchen sind, Sehnsucht spüren, Leben ordnen wollen, Gott und sich selbst suchen. Auf dem Weg finden sie Raum dafür. Hilfreich ist, wenn dieses Geschehen auch am Wegesrand, zum Beispiel durch Kirchen und Gemeinschaften, begleitet wird. Hier haben Pilgerzentren wie das entstehende im Spirituellen Zentrum St. Martin, eine wichtige Funktion. Oder eben auch kirchliche Bildungsorte wie der Annahof in Augsburg, die in ihrem Programm thematische Pilgerangebote offerieren.

"Pilgern ist perfekt für den modernen Menschen – und eine Aufgabe für die Kirche, die auch morgen noch für Menschen bedeutsam sein will. "

Ist Pilgern ein Urbedürfnis?

Kaminski: Da es das Pilgern in praktisch allen großen Religionen gibt, ist es sicher ein spirituelles Grundbedürfnis. Millionenfach pilgern Muslime nach Mekka, Hinduisten zum Fluss Ganges, Buddhisten zum Berg Kailash, Juden und Christen nach Jerusalem. Zahlenmäßig ist das Pilgern auf Jakobswegen eher ein kleines Phänomen. Aber da die Zahlen der in Santiago de Compostela und damit am Grab des Apostels Jakob Ankommenden jährlich wächst und 2021 wegen des Heiligen Jahres eine neue Höchstzahl von 350.000 Pilgernden zu erwarten ist, kann man hier von einem aktuellen Trend sprechen. Im deutschsprachigen Raum wird auch Hape Kerkeling seinen Anteil daran haben, nachdem jedoch 90 Prozent der in Santiago Ankommenden anderssprachig sind, muss der Trend andere Gründe haben.

...der Trend wird also weiter anhalten?

Kaminski: Mit einem baldigen Rückgang oder einer Trendwende ist jedenfalls nicht zu rechnen: Menschen suchen sinnstiftende Angebote, die einerseits in einer Tradition eingebettet sind und damit auch eine tragende Gemeinschaftserfahrung bieten, andererseits jedoch ein hohes Maß an Freiheit und Individualität ermöglichen. Pilgern ist perfekt für den modernen Menschen – und eine Aufgabe für die Kirche, die auch morgen noch für Menschen bedeutsam sein will.