Wissen Sie, was eine Triggerwarnung ist? Es handelt sich dabei um eine Warnung vor einem Text, einem Bild oder auch einem Film, der verstörende oder auch erschreckende Elemente enthalten könnte. Zum Beispiel, weil es um körperliche Gewalt geht oder um Essstörungen. Der Gedanke dahinter ist, Menschen davor zu beschützen, etwas Traumatisches möglicherweise erneut durchleben zu müssen - und ihnen die Wahl zu lassen, den Film rechtzeitig einfach wieder ausschalten oder den Text weglegen zu können. 

Ich finde, zurzeit stellen viele Menschen ihren Alltagssätzen auch eine Triggerwarnung voran: So etwas wie "Ich halte mich ja an die Lockdown-Regeln, aber heute…!" Oder auch: "Ich will ja auch nicht, dass sich jemand mit Corona ansteckt, aber…!"

Ich verstehe das so gut.

Der Grat zwischen der Verantwortung für andere und dem "gut für sich selbst entscheiden können" ist seit der Corona-Pandemie in Deutschland noch schmäler geworden.

Und ja, da kann man schonmal Höhenangst bekommen. 

Ich selber hab zumindest welche: Ich balanciere zwischen Nähe und Distanz, zwischen Vorsicht, Rücksicht und Angst. Ein bisschen kenne ich das Höhenangst-Gefühl aus meinem Beruf: Als Pfarrerin bin ich oft nah dran an den Menschen, die ich begleite. Sie vertrauen mir ihre Gefühle an, die Scham und den Stolz. Und gleichzeitig ist meine Kirche, sind meine Gottesdienste so weit weg vom Alltag, von den Brotdosen, den Meetings und den Yogastunden.

Nähe trotz Distanz - das kenne ich gut und empfinde es als eine der größten Herausforderungen meines Berufs. Jetzt aber, in diesem Moment, während ich alleine und nur mit dem zweiten Kaffee am Esstisch sitze, überfordert sie mich.

Ich kann einen Hauch von der Einsamkeit spüren, von der mir andere erzählen.

Es ist still hier drinnen und das Gasthaus drüben auf der anderen Straßenseite ist geschlossen. Wenn ich morgens das Fenster öffne und den Nebel hereinlasse, ist die Stille noch ruhig und friedlich. Im Laufe des Tages wird sie lauter, unruhiger. 

Über Einsamkeit und Stille

Bei vielen Menschen ist es zurzeit auf eine ganz unterschiedliche Art und Weise einsamer und stiller als sonst. Die einen vermissen ihre erwachsenen Kinder und Enkelkinder. Die anderen mögen zwar die Stille und den guten Kaffee zu Hause am Schreibtisch, aber vermissen das Glas Wein am Abend in der Lieblingsbar. Wieder andere halten durch, sagen, es geht schon und was soll man machen und tun alles dafür, dass es den Kindern gut geht - und spüren abends etwas Schweres auf den Schultern und morgens einen Druck auf der Brust.

Stille und Einsamkeit können wie Ruhe und Frieden sein: Sie können Dir leise zuflüstern, was Du lange vermisst hast. Sie können Dich wärmen wie Deine Lieblingsstrickjacke, weil Du niemandem gefallen musst. Dann hörst Du Dein Herz schlagen und schaust morgens in den Nebel und es ist fast ein bisschen so, als ob alles gut wäre.

Aber was ist, wenn die Stille Dich alleine lässt mit Dir selbst? Was ist, wenn es eben nicht ruhig und friedlich ist in Dir, sondern laut wird, so laut? Wo hört der Frieden auf und wo fängt die Unruhe an? Mitten in der Stille?

Wer innerlich tobt, muss leider schweigen

Im November liegen die Stille des Totengedenkens, ob an Allerheiligen auf dem Friedhof, oder am Ewigkeitssonntag im Gottesdienst, und die Unruhe der Trauer um die Verlorenen ziemlich nahe beieinander. Leise Tränen und lautes, unruhiges Vermissen. Und dann, kaum hat man das geschafft, kommt der Advent mit seiner verordneten Besinnlichkeit, mit den Plätzchen und dem harmonischen Kerzenanzünden am Sonntagmorgen. Wer jetzt innerlich noch immer tobt, der muss leider schweigen und den Frieden wahren.

Ich glaube, besonders in diesem Jahr kann das Bauchschmerzen machen, dieser verordnete Friede und die aufgesetzte Besinnlichkeit. Weil es eben schon so lange stiller geworden ist im Alltag und immer lauter in mir drin. Das passt nicht gut zusammen.

Du wolltest eigentlich nochmal nach Italien und vermisst jetzt das Meer. Du wolltest endlich zum Sport und jetzt ist das Fitnessstudio zu und die Motivation unter die Decke gekrochen.

Das klingt unwichtig und nebensächlich - ist es aber nicht.

Das Vermissen der lauten Normalität macht es schwieriger, die Ruhe auszuhalten - weil sie eben nicht selbstgewählt ist wie ein paar Tage Auszeit im Kloster oder zwei Wochen im abgelegenen Ferienhaus in der Toskana. Was mache ich jetzt also mit dem Advent und der Harmonie, nach der ich mich bei aller inneren Unruhe trotzdem sehne?

Besser keinen Streit riskieren?

Vielleicht ist es wie in langen Freundschaften oder Beziehungen: Ich merke, etwas ist nicht gut und ich weiß, dass ich es ansprechen sollte. Aber ich will keinen Streit riskieren: Es würde weh tun zu merken, dass wir unterschiedlicher Meinung sind. Weil der heile Frieden gestört wäre, die Harmonie durchbrochen. Dann sagen wir lieber nichts und hoffen, dass sich trotzdem etwas ändert.

Meistens eskaliert der Streit dann trotzdem irgendwann: noch schmerzhafter und noch lauter. Beim Advent ist es ähnlich:  Wenn wir mit so viel Harmonie, mit so viel Sehnsucht nach schönen Klängen auf Weihnachten zugehen, wird es nicht friedlich, sondern zuerst kitschig und dann unerträglich. Dann gießen wir Zuckerguss mit rosa Zuckerperlen auf die Plätzchen, um es allen recht zu machen und brauchen danach dringend saure Gurken. Verschicken Weihnachtskarten mit Familienbildern, wo es eigentlich grade knirscht und legen mehr Holz nach im Kamin, wenn wir eigentlich tief drinnen frieren.

"Am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit", 

hat mein Lieblingsdichter, der ängstliche, inkonsequente und liebevolle Erich Kästner einmal geschrieben. Es macht einsam, wenn man für sich behält, was einen so unruhig macht. Wir werden dann stiller und kleiner und angepasster, weil wir uns dem anderen nicht zumuten wollen. Aus Angst, zu laut zu sein. Lieber weniger sagen, weniger streiten, weniger riskieren.

Aber das Einzige, was Du damit gefährdest, ist eben nicht der Friede, sondern Deine Seele. Du riskierst Deine Worte, Deine Gefühle, Deine Wahrheit. 

Laut sein, streiten, Mut beweisen

Vielleicht müssen wir in diesem Advent lauter sein als sonst. Mehr von dem aussprechen, was uns belastet. Weniger unter den Teppich kehren und dafür das sagen, was uns auf der Zunge liegt. Vielleicht sogar mehr streiten als sonst - um des lieben Friedens willen. Ich glaube, der sicherste Weg, den Frieden zu finden, ist der Mut zu streiten. Über die eigene Wahrheit, die Wahrheit der anderen und vielleicht auch über das große Ganze.

Der Mut zu streiten ist nicht blind vor Wut und weiß auch noch nicht genau, wo der Streit enden soll. Der Mut zu streiten riskiert den eigenen Frieden, um einen größeren Frieden zu finden. Zusammen mit den Menschen, die Dir nahe sind. Und getragen vom Frieden, den Gott uns versprochen hat: "Meinen Frieden gebe ich Euch. Euer Herz verzage nicht."