Vor zwei Jahren um etwa diese Zeit ist in Berlin darüber diskutiert worden, ob der Reformationstag dort ein zusätzlicher Feiertag werden sollte. Als Alternative standen zur Auswahl: Der Frauentag am 8. März, der Tag des Mauerfalls am 9. November und der sogenannte Tag der Befreiung am 8. Mai.
Warum man 2018 darüber diskutierte?
Wegen des 500-jährigen Reformationsjubiläums natürlich! Ein Riesenspektakel, zumindest kam es mir damals so vor. Luthersocken und andere protestantische Heiligenreliquien überall, ein Kirchentag in Berlin und der Lutherstadt Wittenberg gleichzeitig, seitenweise Debatten über Luthers Antisemitismus in theologischen Fachzeitschriften - ach, was war das schön!
In diesem Jahr hat niemand für solche schöngeistigen und irgendwie auch überflüssigen Debatten Zeit und Muße.
Niemand trägt Luthersocken und wenn ja, würde sie niemand sehen, weil man alleine Kaffee trinken soll. Der Ökumenische Kirchentag findet in einer hybriden Fassung statt (ich finde, das klingt immer irgendwie nach Aquarium und vielleicht ist es auch so etwas) und theologische Fachzeitschriften diskutieren über das digitale Abendmahl, während die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Margot Käßmann, beteuert, das Weihnachten sicher nicht ausfallen werde.
Da sehnt man sich doch als Pfarrerin geradezu nach den Debatten um den Reformationstag. Das heißt aber auch: Als ich um diesen Text gebeten wurde, hatte ich keine Ahnung, wie um alles in der Welt ich in diesem Corona-Jahr (ich wollte dieses Wort nicht schreiben, aber es muss ja sein), die Bedeutung des Reformationstages persönlich, frisch und berührend schildern sollte.
Ist es nicht so, dass wir dieses Jahr einfach dringendere Probleme haben?
Zum Beispiel, ob es verantwortungslos ist, zurzeit seine Eltern zu besuchen und sie damit womöglich zu infizieren? Oder die Frage nach der zunehmenden Stigmatisierung von Menschen, die an COVID-19 erkrankt sind.
Ich werde erschlagen von ethischen Fragestellungen, die mich an den Rand meines Wissens, meiner Weitsicht und meiner persönlichen Einschätzung bringen. Ich habe das Gefühl, zur Zeit geht es um Leben oder Tod. Immer. In jeder Debatte.
Beim Kommentieren der Nachrichten werden wir zu Richter*innen über Gut und Böse, Maskenträgerinnen und Aluhüten. Wenn ich mich mit Freundinnen und ihren Kindern treffen will, überlege ich sorgfältig, wie ich meine Einladung formuliere - vielleicht lieber gleich nur einen Kaffee auf dem Spielplatz vorschlagen? Natürlich jede aus der eigenen Thermoskanne - ich möchte schließlich nicht für verantwortungslos gehalten werden!
Urteile im Corona-Jahr
Die Angst vor den Urteilen der Anderen ist in diesem Jahr stärker als sonst - und gleichzeitig scheinen uns die unkontrollierbaren Risiken und die fehlenden Erfahrungen mit einer solchen Pandemie immer stärker in diese Ecke zu drängen. Sag mir, wie Du zur Maskenpflicht stehst und ich sage Dir, wer Du bist.
Und gleich daneben, in derselben Ecke: Die Sehnsucht nach einem gnädigen Richter, der Dich endlich von der belastenden Schuld freispricht, nicht das einzig Richtige zu tun. Bei Luther waren es Peitschenhiebe auf den Rücken, mit denen er sich selbst geißelte, bei uns ist es der zermarterte Kopf, der den Urlaub zu Hause gegen die Ferienwohnung auf der Nordseeinsel abwägt und das Kita-Kind gegen das völlig überfordernde Homeoffice.
Ich übertreibe? Ich glaube nicht.
In diesem Jahr voller Urteile, voller Unsicherheiten und voller Ängste - vor den eigenen Dämonen, vor dem Virus selbst oder vor den finanziellen Konsequenzen eines drohenden Lockdowns - in diesem Jahr kann der Reformationstag für mich eigentlich nur ein Tag sein, der mich zu mir selbst zurückführt.
Er wirft mich aber nicht grob und mit Selbstvorwürfen beschleunigt auf eine harte Pritsche. Nein, ganz im Gegenteil. Es ist eher ein behutsames Hochheben und wieder auf den Boden stellen. Der Reformationstag ist für mich in diesem Jahr der Tag, an dem ich versuche, allen Urteilen über mich zum Trotz stehen zu bleiben. Mir zu vertrauen. Mir und meinen eigenen Einschätzungen.
Über meinen Gesundheitszustand, die Beziehung zu meinen Eltern und wie viel Nähe und Distanz unser Verhältnis braucht. Es ist der Tag, der mich daran erinnert, welche Autoritäten in meinem Leben gerade Macht über mich haben.
Wer hat Macht über mich?
Meine Vergangenheit? Die Menschen in meinem Arbeitsumfeld? Welche Instanz und welche Menschen lasse ich Richter*in über mein Leben sein? Für mich atmet die Reformation als eine Bewegung, die viele Lebensbereiche nachhaltig verändert hat, immer einen sehr kritischen Geist: Gottesdienste in deutscher Sprache wurden eingeführt, damit alle verstehen können, was gesagt wird.
Die Bibel sollten alle selbst lesen können, denn jedem und jeder wird zugetraut, hinter ihren Worten Gnade und Hoffnung finden zu können. Es ist ein kritischer Geist, der Dir viel zumutet: einen wachen Verstand zu haben, der selber denkt. Einen scharfen Blick für Menschen, die sich hinter ihrer Autorität und ihrer Rolle verstecken und dadurch Druck und Macht ausüben können. Das ist anspruchsvoll und unbequem.
Es ist aber auch ein Geist, der Dir genau das zuspricht: "Du darfst zu Dir stehen, da wo Du jetzt bist. Mit zitternden Knien, Tränen in den Augen oder Bauchschmerzen vor Lachen. Da, wo Du jetzt stehst, stehst nur Du."
Am Ende einer Yoga-Stunde (ich gebe es zu, ich konnte mich dem Druck, auch zu Hause Sport zu machen, nicht länger entziehen) heißt es manchmal:
"Bedanke Dich bei Dir selbst."
Das tue ich dann - und spüre sofort den Anflug eines schlechten Gewissens. Darf ich das? Mich selbst so wichtig nehmen? Niemand anderem zu danken als mir selbst? Und ich glaube, ja. Es bin ich, die ihr Leben lebt. In meinem Fall mit dem Gefühl, es nicht alleine zu leben, sondern an feinen Fäden gehalten und getragen von der Gegenwart Gottes.
Meine Entscheidungen sind meine eigenen Rosen und Dornen. Es erfreuen sich auch andere an der Farbe und dem Duft meiner Rose - und sie stechen sich auch an meinen Dornen. Fühlen meinen Schmerz, sind vielleicht auch selbst verletzt. Weil sie Teil meines Lebens sind. Weil wir alle Teil des Lebens der anderen sind.
Aber ich bin es, die wächst. Genährt von der Sonne, verwurzelt in der Erde. Und ich bin es, die sich ausstreckt nach Gott. Ich bete. Ich hoffe. Ich zweifle.
Wonach richte ich mich aus?
Ein bisschen wie die Zeilen in diesem etwas kitschigen Kirchenlied, das ich genau deshalb so gerne für Taufen vorschlage: "Vergiss es nie: Niemand denkt und fühlt und handelt so wie du, niemand lächelt so, wie du's grad tust. Vergiss es nie: Niemand sieht den Himmel ganz genau wie du. Niemand hat je, was du weißt, gewusst." Natürlich ist das, was ich weiß, begrenzt.
Deshalb reden wir mit unseren Freunden, holen uns Rat, informieren uns, schotten uns nicht ab von dem, was andere sagen. Aber ich glaube, es macht einen Unterschied, wohin ich mich dabei ausrichte. Nach allen Seiten in dem Versuch, niemanden vor den Kopf zu stoßen? Oder vielleicht ein bisschen mehr nach innen als nach außen.
Hin zu dem, was Luther das Herz nannte. Den Ort, wo Christus für ihn mit seiner Gnade wirksam wurde: "Es ist etwas Schönes darum, dass unser Herz stark werde", übersetze er einmal einen Vers aus dem Hebräerbrief.
Ein starkes Herz. Einen festen Stand, von mir aus auch in Luthersocken. Die Erinnerung daran, dass ich mir selbst vertrauen kann. Und, dass ich der Gnade Gottes mehr zutrauen kann als dem Urteil anderer.