Abhängigkeiten müssen nicht immer "stoffgebunden" sein. Klatsch und Tratsch, pausenloses Arbeiten, zu wenig Zeit für die Familie und Freunde... All das und vieles andere kann zur Angewohnheit geworden sein, die meine Freiheit einschränkt.

Die erste Frage im Blick auf die Fastenzeit ist also die ehrliche und aufrichtige Suche nach dem, was mich konkret persönlich betrifft. Woran hängt mein Herz? Woran klebe ich? Welche Gewohnheiten rauben mir Zeit, Kraft und echte Lebensfreude?

"Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott", sagt Martin Luther. In der Fastenzeit geht es auch darum, solche "Hausgötzen" zu entlarven, zu benennen, zu entthronen und Raum zu schaffen für den lebendigen Gott, der uns befreien will zu unserem wahren Sein und zu echter Lebensfreude und Lebendigkeit.

Vor über 80 Jahren entstand in der Stadt Acron in den USA die Bewegung der "Anonymen Alkoholiker". Damals begegnete der bekannte Chirurg Bob S. (55) dem Börsenmakler Bill W. (39). Beide litten schwer unter Alkoholismus. Sie stellten fest, dass ihr Zwang zu trinken schwand, als sie damit begannen, sich ehrlich über ihre Krankheit auszutauschen. Sie brauchten sich nicht voreinander zu verstecken. Denn sie beide saßen gleichsam im selben Boot. Allmählich erkannten sie dieses Genesungsprinzip und suchten weitere Alkoholiker.

Es funktionierte: 1939 zählte die Gemeinschaft etwa 100 trockene Alkoholiker. Sie beschlossen, die Grundsätze und Erfahrungen, die sich beim Bemühen, Alkoholikern zur Genesung zu verhelfen, herauskristallisiert hatten, in einem Buch zu veröffentlichen. Dort wurde das Gedankengut der Gemeinschaft in zwölf Schritten zusammengefasst und gezeigt, wie Betroffene diese Schritte umsetzen können. Dazu kamen Lebensgeschichten von Alkoholikern, die über ihre Erfahrungen berichteten. Der Beweis, dass Alkoholiker mit Hilfe des Programms der AA genesen können, war erbracht.

Wie ein Lauffeuer breitete sich die Bewegung aus, erst in den USA, später weltweit. Inzwischen hat sie viele Millionen Anhänger, die sich in Abertausenden Gruppen wöchentlich treffen. Allmählich wurde klar, dass die Prinzipien der Anonymen Alkoholiker auch für viele andere Formen von Sucht oder Gebundenheit funktionieren.

Es gibt Spielsucht und Drogensucht, Sexsucht und viele Formen von Ess-Störungen, notorisch Überschuldete und "Messies" – um nur einige Abhängigkeiten zu nennen. Nicht zu vergessen: die Angehörigen von suchtabhängigen Familienmitgliedern. Als "Co-Abhängige" werden sie fast immer mit in den Sog der Sucht hineingezogen und brauchen selbst Hilfe. Inzwischen existieren weltweit zahllose Gruppen, die sich solch spezifischen Themen zuwenden.

Was aber geht das die von uns an, die auf den ersten Blick weder süchtig noch abhängig sind? Der amerikanische Franziskanerpater und weltbekannte geistliche Lehrer Richard Rohr behauptet, dass wir alle in irgendeiner Form abhängig sind.

Sich selbst den Spiegel vorhalten.
Nachfolge bedeutet zunächst, nüchtern jene Bindungen zu entdecken, die uns auf dem Weg zu Gott blockieren, unsere Fixierungen, Vermeidungen, Denk- und Verhaltensmuster.

In einer Leistungs- und Konsumgesellschaft sind es häufig Anerkennung, Erfolg und Wohlstand, eingefleischte Gewohnheiten, fixierte Verhaltensmuster und vor allem unser Selbstbild und unsere festgefahrenen Meinungen, die uns die wirkliche Freiheit nehmen, die uns Jesus verheißen hat. Rohr meint, das Programm der Anonymen Alkoholiker sei der wesentlichste Beitrag Amerikas zur Spiritualität. Es gibt keinen Menschen, der nicht irgendwie abhängig ist, und sei es noch so versteckt. Und er zeigt die Parallelen zwischen dem Evangelium und diesem Programm:

Jesus ruft Menschen in die Nachfolge, damals wie heute. Nachfolge bedeutet zunächst, nüchtern jene Bindungen zu entdecken, die uns auf dem Weg zu Gott blockieren, unsere Fixierungen, Vermeidungen, Denk- und Verhaltensmuster.

"Ändert eure Einstellung und Ausrichtung!": So könnte man den Ruf zu Umkehr und Buße wörtlich übersetzen, der am Anfang seines Wirkens steht. Jesus selbst ist diesen Weg vorangegangen. Er hielt an nichts fest, er "entäußerte" sich seiner Göttlichkeit, wurde Mensch wie wir und gab sein Leben hin im Vertrauen auf Gott. Wer sein Leben festhält, wird es verlieren. Wer anhaftet bleibt unfrei. Die Gute Nachricht Jesu lautet, dass es eine Alternative gibt, eine Freiheit, die Gott dem schenkt, der sich selbst loslässt.

Übungen auf dem Weg in die Freiheit

Am Aschermittwoch gibt es auch in vielen evangelischen Kirchen Gottesdienste, die die Fastenzeit einläuten. In München zum Beispiel in St. Matthäus oder im Spirituellen Zentrum St. Martin um 18 Uhr. Das Aschenkreuz auf Stirn oder Scheitel erinnert an unsere Vergänglichkeit. In St. Martin empfangen es die Gottesdienstbesucher mit folgendem Segenswort: "Der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus begleite dich durchs Leben und Sterben zum Leben!".

An vielen Orten in unserer Kirche werden während der Fastenzeit "Exerzitien" angeboten, wöchentliche Treffen, wo es häufig auch um Themen wie Fasten, Loslassen und Gottvertrauen geht.

Das evangelische Fastenmotto 2017 lautet "Sieben Wochen ohne Sofort". Das bedeutet unter anderem: ohne sich dem Zwang zu beugen, sich sofort alle Wünsche zu erfüllen. Es geht um die Chance, sich von Gott unterbrechen zu lassen, innezuhalten und neue Formen der Lebendigkeit und des Glücks zu erspüren.

Wir alle brauchen das. Die Fastenzeit birgt eine große Chance.

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