Welcher Islam gehört zu Deutschland?

Seehofer hatte der Bild-Zeitung gesagt: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Deutschland ist durch das Christentum geprägt." Allerdings gehörten die hier lebenden Muslime zu Deutschland.

In den ersten Reaktionen erntete der neue Innenminister viel Kritik: "Überflüssige Debatte", "hilft niemandem", "spaltet", "grenzt aus". Auch Angela Merkel fuhr ihm in die Parade. Inzwischen lebten vier Millionen Muslime im Land, sagte die Bundeskanzlerin. "Und diese Muslime gehören auch zu Deutschland. Und genauso gehört ihre Religion damit zu Deutschland. Also auch der Islam." Meinen vielleicht beide doch das Gleiche?

Möglicherweise. Denn beide, Seehofer und Merkel, haben ein Problem mit dem konservativen Islam in Deutschland. Doch ihre Lösungsansätze gehen auseinander. Merkel will das Problem aussitzen und verdrängt es, Seehofer provoziert und will es lösen.

Der Innenminister trifft dabei anscheinend den Nerv der Deutschen, 76 Prozent stimmen ihm zu. 61 Prozent sagen "stimme vollkommen zu", 15 Prozent entschieden sich für "stimme eher zu". Nur 20 Prozent widersprechen, 4 Prozent sind "unentschieden".

Bedauerlich, dass nun vor allem führende SPD-Politiker ein Ende der von Seehofer entfachten Islam-Debatte fordern. "Ich finde den Blick ins Grundgesetz hilfreich, dort gewährt Artikel 4 die Religionsfreiheit", sagte etwa die SPD-Fraktionschefin im Bundestag, Andrea Nahles. Doch damit ist kein einziges Problem gelöst. Einige Ausprägungen des Islam sind eben nicht durch die Religionsfreiheit gedeckt: die Unterdrückung der Frau, Antisemitismus und Judenhass, islamische Parallelgesellschaften, nebenstaatliche Scharia-Gerichte oder die Vollverschleierung im öffentlichen Raum.

Daneben sind praktische Fragen zu lösen: Wie kann die Integration Hunderttausender muslimischer Zuwanderer gelingen? Braucht es muslimischen Religionsunterricht an den Schulen? Sind Demokratie und Islam vereinbar? Unter welchen Bedingungen dürfen Flüchtlinge oder Migranten eine Zweit-Ehefrau nach Deutschland bringen?

Es wäre falsch, die Debatte weiterhin zu unterdrücken. Nicht die Debatte spaltet die Gesellschaft; die Spaltung der Gesellschaft durch einen fundamentalistisch-konservativen Islam ist bereits Realität, und sie wird dramatisch, wenn die Probleme nicht angepackt werden.

Der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi bringt es auf den Punkt: Der Islam sei ein integraler Teil Deutschlands, "besonders wenn man an die hier geborenen und sozialisierten Kinder von einst zugewanderten Menschen denkt", sagte Ourghi im Interview mit sueddeutsche.de. Viel wichtiger finde er die Frage: "Welchen Islam wollen wir in Deutschland?"

Ourghi, Vertreter eines aufgeklärten Islam, kritisiert, dass sich in Deutschland ein eher konservativer Islam etabliert habe. "Ich denke, dass nur ein Islam zu Deutschland gehören kann, der konform mit unseren westlichen Werten und dem Grundgesetz ist." In den Moscheen werde den Kindern kaum beigebracht, über ihre Religion nachzudenken und ihren Glauben auch kritisch zu hinterfragen. Ourghi kritisiert außerdem "Import-Imame aus der Türkei oder arabischen Ländern". Um diese zu stoppen, "müssen wir eigene Leute ausbilden. Menschen, die hier sozialisiert und vertraut mit unserem Grundgesetz sind." Diese wichtige Aufgabe der Ausbildung von Imamen müssten die Universitäten übernehmen.

Welche Rolle können die Kirchen dabei spielen?

Seehofer will es nicht bei der Provokation belassen, er kündigte an, erneut die Islamkonferenz einzuberufen: "Wir müssen uns mit den muslimischen Verbänden an einen Tisch setzen und den Dialog suchen und da wo nötig noch ausbauen", sagte er. Die Islamkonferenz wurde 2006 als Gesprächsforum zwischen Staat und in Deutschland lebenden Muslimen ins Leben gerufen.

Gute Idee. Doch dieses Mal darf man den konservativen Verbänden nicht mehr erlauben, die liberalen Muslime von diesem Forum auszugrenzen. Mit an den Tisch gehört auch die Imamin Seyran Ateș, Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin.

Welche Rolle die Kirchen dabei spielen können? Unmittelbar vor Seehofers Wortmeldung hatte der Präsident des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hans Ulrich Anke (Hannover), bekräftigt, dass die EKD den muslimischen Verbänden helfen will, den gleichen rechtlichen Status zu erhalten wie die Kirchen. Die EKD sehe ihre Aufgabe darin, den Prozess konstruktiv zu begleiten.

Hier macht sich Unbehagen breit, denn zu sehr haben in jüngster Vergangenheit Kirchenleute in Deutschland auf einen erstarkenden Islam gesetzt, um im Fahrwasser einer vermeintlich zunehmenden Religiosität wackelige Staat-Kirche-Strukturen zu stabilisieren.

Die bayerische Landeskirche ist hier bereits weiter. "Wir reden noch nicht mit allen, mit denen wir reden müssten", sagte der Nürnberger Regionalbischof Stefan Ark Nitsche jüngst im Redaktionsgespräch. "Diejenigen, die im Dialog mit den Muslimen sind, sind nicht mehr so naiv wie noch vor ein paar Jahren. Wir waren in den letzten Jahren alle miteinander als deutsche Gesellschaft, aber insbesondere auch als Kirchen in einer gewissen Weise naiv." Man habe als Königsweg auf die Verbände gesetzt, was sich als nicht tragfähig erwiesen habe, so Nitsche. "Als Kirche müssen wir uns aktiv und energisch dafür einsetzen, dass der Reform-Islam eine Stimme bekommt."

Die evangelische Kirche in Bayern hat eine klare Konzeption für den christlich-muslimischen Dialog, in der die rote Linie in zehn Punkten markiert ist: Bekenntnis zur Geltung der individuellen Menschenrechte, die Achtung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau, Bejahung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der individuellen Freiheit, Akzeptanz der grundsätzlichen Unterscheidung von Kirche und Staat, Abgrenzung gegenüber jeder Form von gewaltbereitem Fundamentalismus und Extremismus, Ablehnung des Antisemitismus, Eintreten von Christen gegen Islamfeindlichkeit, Eintreten für die Achtung der Religionsfreiheit hierzulande und in islamischen Staaten, Integration von Zuwanderern. Für die bayerische Kirche sind das die nicht verhandelbaren Punkte für den christlich-islamischen Dialog.

Damit Reformen gelingen können, wird es wichtig sein, die Baustellen und Problemzonen zu benennen:

Religionshistorisch versteht sich der Islam als vollkommene Religion, als Weiterentwicklung von Judentum und Christentum. Mohammed hat sich gewaltsam von den Vorläufern abgegrenzt und Andersgläubigen, die nicht zum Islam konvertieren wollten, die Köpfe abschlagen lassen, sie vertrieben oder Strafsteuern zahlen lassen. Man kann von Muslimen verlangen, sich von dieser Schattenseite des Propheten zu distanzieren. Was man sich von einer islamischen Aufklärung wünscht: Toleranz gegenüber anderen Religionen, Gleichberechtigung der Frauen, Geltungsvorrang staatlicher vor religiösen Gesetzen, der allgemeinen Menschenrechte vor der Scharia. Bisher erhebt der konservative Islam einen Anspruch auf den ganzen Menschen, auf die ganze Gesellschaft, auf den Staat, das Recht, die Moral, das Denken. Dieser totalitäre Anspruch steht dem Freiheitsgedanken unvereinbar gegenüber. Der Islam muss sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass die Welt erst dann friedlich und sozial ist, wenn sie komplett islamisch ist.

Religionsfreiheit bedeutet in freien Gesellschaften zweierlei: den eigenen Glauben leben zu können – und den anderen in Ruhe zu lassen, egal ob Schiit, Sunnit, Alewit, Jeside, Jude, Christ oder Atheist. Konkret: Die Suren über Apostasie, den Abfall vom Glauben, müssen dringend als unwirksam erklärt werden. Der Islam muss seinen Allmachtsanspruch aufgeben. Toleranz darf keine Einbahnstraße sein. Den universalen Menschenrechten muss absolute Geltung eingeräumt werden. Dazu gehören Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung der Frau. In Deutschland garantiert diese das Grundgesetz.

Die muslimischen Aufklärer und Reformer sind dabei sehr wichtig, aber ausgerechnet sie haben es sehr schwer, nicht nur in der islamischen Community, sondern manchmal auch mit Staat und Kirchen. Oft stehen die liberalen Muslime am Rand. Die Konservativen sind dominant und setzen sich durch.

Dem unaufgeklärten Islam konsequent die Stirn bieten

Das Kopftuch ist nur ein Beispiel: Auch in eher liberalen muslimischen Familien kommt der Hidschab in Mode. Nicht, weil ihnen das gefällt, auch nicht, weil sie sich als Muslime bekennen wollen, sondern weil sie sich damit in der islamischen Community besser wegducken können. Unbegreiflich, warum sich der Verband der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) unter dem Banner der "Religionsfreiheit" und des "Religionsfriedens" für das muslimische Kopftuch starkmacht – während der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman das Kopftuchgebot lockern will.

Die meisten moderaten Muslime wehren sich nicht, wenn importierte konservative Imame, die oft nicht einmal Deutsch können, ihre Lebenswelt nach den Kriterien der Scharia einschränken. Das wird in der Regel hingenommen. Es gibt eine Grundloyalität zur Umma, zur muslimischen Gemeinschaft. Die ist immer noch stärker als der Wunsch nach persönlichen Freiheiten.

Die liberalen und säkularen Muslime freuen sich nicht, wenn Deutschland auf diese Weise "religiöser" wird. Sie wollen keine Scharia, kein Hidschab, Nidschab, keine Burka und keine Scharia-Polizei. Sie hoffen darauf, dass der Staat dem unaufgeklärten Islam konsequent die Stirn bietet – bis man eines Tages sagen kann: Ein liberaler, aufgeklärter und toleranter Islam hat in Deutschland seinen Platz. Dieser Islam gehört zu Deutschland.