Die Redner beim Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing haben die zwiespältige Rolle der Religionen in Konflikten beleuchtet. Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte, dass Religion immer auch benutzt werde, "um eine Form von Identität zu stiften, die sich vor allem durch Abgrenzung definiert und dann allzu schnell zu Abwertung der anderen, zu Hass oder sogar zu Gewalt und Mord führt. Die Festrede zum Thema "Die friedensstiftende Kraft der Religionen" hielt die Generalsekretärin von "Religions For Peace" (RfP), einer internationalen Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York City, Azza Karam. Darin bezeichnete sie die Religionen als das "zweischneidige Schwert schlechthin - der Gewalt und der Macht".

Heinrich Bedford-Strohm über gewaltfreie Revolution

Als Beispiel für die Instrumentalisierung des Christentums für die religiöse Befeuerung von Nationalismus und Kriegsbegeisterung in Deutschland nannte Bedford-Strohm die beiden Weltkriege. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) betonte aber auch die Lernfähigkeit der Kirchen, deren "Früchte" etwa bei der gewaltfreien Revolution in der DDR vor 30 Jahren zum Ausdruck gekommen sei. "Wer Gott die Ehre gibt, der muss auch dem Menschen die Ehre geben", forderte Bedford-Strohm weiter. "Der Glaube an den, der in seiner menschlichen Gestalt als Folteropfer am Kreuz gestorben ist, stellt uns an die Seite all derer, die heute Opfer von Krieg und Gewalt sind." Er verpflichte die Kirchen, "dem Rad der Gewalt in die Speichen zu fallen".

Menschenfeindlichkeit wie Rassismus oder Antisemitismus hingegen sind für Bedford-Strohm "Gotteslästerung". Für Christen, die an einen Gott glauben, der sich in dem Juden Jesus von Nazareth in menschlicher Gestalt gezeigt hat, sei der Antisemitismus eine besonders offensichtliche Form der Gott lästernden Menschenfeindlichkeit. Der evangelische Theologe mahnte daher zu mehr Selbstkritik. Den über viele Jahrhunderte gewachsenen christlichen Antijudaismus bezeichnete er als "beschämendes Beispiel". Dieser sei legitimatorische Kraft gewesen für einen Antisemitismus, "der im 20. Jahrhundert einen nach wie vor unfassbar mörderischen Ausdruck fand". Es habe viel zu lange gedauert, "bis wir verstanden haben, dass wir genau selbst Teil des Problems waren und manchmal noch sind", sagte Bedford-Strohm.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte in seiner Rede, dass die friedensstiftende Kraft der Religionen und der interreligiöse Dialog einen kostbaren Beitrag für eine gelingende Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen leisteten. Denn die Religiosität der Weltbevölkerung nehme zu: Laut den Vereinten Nationen seien aktuell 84 Prozent aller Menschen weltweit religiös - mit steigender Tendenz. Zugleich prangerte Herrmann die aktuelle "Gewaltspirale" in der Gesellschaft an: Rechtsextreme gegen Ausländer und Juden oder radikale Islamisten gegen Christen und Juden. Es brauche daher den leidenschaftlichen Einsatz für Frieden, Freiheit, Toleranz und Zusammenhalt - gegen Extremismus von rechts und von links, gegen Antisemitismus und gegen religiös motivierten Fanatismus.

Die Religionswissenschaftlerin Azza Karam, gebürtige Ägypterin und Muslima, betonte, dass Religion sich zu allen Aspekten des Lebens äußere: Umgang mit Geld, materiellem Reichtum, Sexualität, politischem Einfluss oder sozialer Gerechtigkeit. Religion habe so das Potenzial, Orientierung für das tägliche Leben, sozialen Zusammenhalt, Gerechtigkeit, Frieden und gewaltlosen Widerstand zu geben. Auch sie warnte zugleich - wie Bedford-Strohm - vor Missbrauch. Einige religiöse Organisationen hätte eine eigene interne Machtdynamik, könnten absolute Wahrheit beanspruchen oder Religion instrumentalisieren, um Kriegshandlungen und Gräueltaten zu rechtfertigen, kritisierte Karam. Der Staat müsse sich unter anderem fragen, mit welchen Vertretern von Religionsgemeinschaften er spreche oder ob religiöse Akteure zur Stärkung von diktatorischen Regimen beitrügen.

"Um erfolgreich mit religiösen Akteuren zusammenzuarbeiten, ist eine sorgfältige Analyse ihres jeweiligen Profils und ihrer Erfolgsbilanz - einschließlich ihrer eigenen selbstkritischen Reflexion - unerlässlich, betonte die Religionswissenschaftlerin. Der Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, Udo Hahn, forderte dazu auf, mehr für die Demokratie einzustehen. Der Vergleich mit der Weimarer Republik (1918 bis 1933) mache deutlich: "Demokratie ist nicht einfach etwas, das wir haben und ein für alle Mal behalten. Sie ist ein zerbrechliches Konstrukt."