Lieblingsmenschen

Konnten Sie die Feiertage mit wenigstens einem Ihrer Lieblingsmenschen verbringen?

Lieblingsmenschen können, aber müssen nicht aus der Familie sein. Neben der Familie prägen uns noch andere Beziehungen, die auch mit Liebe, mit Zuneigung zu tun haben. Wir nennen sie: Freundschaften. Wir lieben sie auch, die Freundinnen und Freunde, jede, jeden auf eine eigene Weise.

Freund*innen sind keine Konkurrenz zu unseren Familien. Freund*innen kommen dazu. Sie werden Teil unseres Lebens und fühlen sich manchmal wie Familie an, manchmal sogar noch vertrauter. "Wer die Freundschaft aus dem Leben streicht, nimmt die Sonne aus der Welt", sagt ein Philosoph (Cicero). Für mein Leben stimmt das in jedem Fall. Zur Sonne, zu dem, was mein Leben hell und wertvoll und schön macht, gehören in jedem Fall Freundschaften. Ich könnte von meinem Leben nicht erzählen, ohne von meinen Freund*innen zu erzählen. Mit den einen habe ich studiert. Andere habe ich über gemeinsame Hobbies und Interessen kennen gelernt. Gar nicht so wenige über Social media. Und einige auch über die Kirchengemeinde. Das Schöne ist: Freundschaft kann überall entstehen, auch in der Familie. Zwei Cousinen können beste Freundinnen werden. Oder ein erwachsener Sohn und seine Mutter, ein früherer Schüler und sein Lehrer werden einander Freunde. Und Freundschaft ist manchmal auch das Geheimnis langjährigen Ehen und Partnerschaften. Was ist Liebe, was ist Freundschaft? So genau kann man das gar nicht unterscheiden.

Direkt nach Weihnachten denkt die Christenheit an ganz enge Wegbegleiter und Freunde Jesu. Am 26. Dezember steht im Kirchenkalender Stefanus. Der erste Mann, der wegen seiner Freundschaft zu Jesus verfolgt und getötet wurde. Am 28. Dezember der Tag der "Kinder von Bethlehem" , zur gleichen Zeit wie Jesus geboren. Und am 27. Dezember – heute: Johannes. Später noch mehr zu ihm. Weihnachten ist das Geburtstagsfest von Jesus, der Freundschaft sucht und lebt. Wenn jemand Geburtstag hat, dann haben auch die engsten Freunde was zu feiern, die mit dem Geburtstagskind besonders vertraut sind.

"Like you" heißt eine Ausstellung, die ich vor dem Lockdown noch richtig im Museum besucht habe und die eine tolle Homepage hat: Freundschaft-ausstellung.de. Like you – wie du – oder. Like you - ich mag dich.

Und während ich durch die Ausstellung gehe, wird mir bewusst: Freundschaft ist so vielfältig. Und ich komme ins Nachdenken und Sortieren: Ich kenne viele Leute, sie gehören zu meinem Leben, aber wer ist für mich Freundin und Freund und welche sind einfach nur gute Bekannte?

Über Facebook, Instagram und andere Dienste hat man in kürzester Zeit ganz viele Freunde. Ich kann Fotos, Texte, Videos und anderes hochladen, liken, kommentieren und ständig mit anderen im Austausch sein. Die eine postet ihren Weihnachtsbaum, der andere seine Lederjacke und die nächsten ihre selbstgebackenen Plätzchen. Und ich like das und jenes und schrieb auch mal was dazu. Macht Spaß, verbindet irgendwie. Und ich klick mich so durch das Leben anderer durch.

In diesem Jahr bin ich richtig froh, dankbar, dass ich über die digitalen Medien einige Kontakte halten kann, die analog nicht möglich sind. Der Erfolg der social media hat sicher damit zu tun, dass wir uns mit dem ganz großen und schönen Wort "Freundschaft" vernetzen. Verheißung und Wärme liegen auf diesem Wort. Facebook und Co machen uns zu Freund*innen. Und die wünscht sich jeder.

Freundeskreise

Eine kleine Biographie der Freundschaft, lese ich an einer Wand der Ausstellung. Die Stationen eines Lebens sind da in farbigen Kreisen abgebildet, gelbe, grüne, graue Lebenskreise: Kindergarten. Schule. Und alles danach. Lehre. Uni. Familie. Trennung. Alter/Krankheit. Und mir geht auf: In jedem Lebenskreis kommen neue Freunde dazu und andere verschwinden. Ein paar sind in jedem Kreis dabei. Und manche aus einem früheren Lebenskreis tauchen viel später plötzlich wieder auf. So wie die Kollegin, mit der ich zusammen in der Ausbildung befreundet war, dann haben wir eine Zeitlang kaum Kontakt gehabt und dann hat uns der Beruf zusammen geführt und wir sind heute enger befreundet als vorher.

Die Kreise haben auch verschiedene Formen. Die einen größer, andere kleiner, ganz rund oder oval. Jeder Kreis des Lebens sieht ein bisschen anders aus. Und jeder Kreis hat seine Kreislinie. Außen rum. Es passen nicht unbegrenzt viele Freunde in einen Lebenskreis.

Wenn ich mir mein Leben auch mit Kreisen aufmale – von der Schulzeit bis heute  - merke ich: Es sind nur ganz wenige Wegbegleiter, die in fast allen Kreisen meines Lebens wirklich dabei sind. Die sich gemeinsam mit mir erinnern können: Weißt du noch … Und von denen ich glaube: Ihr seid auch im nächsten und übernächsten Lebenskreis noch dabei, auch wenn der ganz anders wird, als wir es uns jetzt vorstellen.

"Like a bridge over troubled water” – Simon & Garfunkels wunderbare Hymne auf die Freundschaft. Mir sagt dieser Song: Freundschaft ist etwas Kostbares, etwas Heiliges. Und: Freundschaft ist auch etwas Religiöses. Wobei ich finde: Dieser Song ist ziemlich aufgeladen: "Ich bin immer da für dich, du brauchst nur zu rufen". Ehrlich gesagt: Mir ist das etwas zu viel. Ich bin damit überfordert. Wer kann das schon? Freundschaft ist etwas anderes, Bodenständigeres. Nicht die große hingebende romantische Liebe, die es im wirklichen Leben kaum gibt. Freundschaft ist

Miteinander reden und lachen;

Sich gegenseitig Gefälligkeiten erweisen;

Zusammen schöne Bücher lesen;

Sich necken, dabei auch einander Achtung erweisen;

Mitunter auch streiten,

freilich ohne Gehässigkeit, (…)

manchmal auch in den Meinungen auseinander gehen

und damit die Eintracht würzen;

einander belehren und voneinander lernen;

die abwesenden schmerzlich vermissen

und die Ankommenden freudig begrüßen –

lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe,

die aus dem Herzen kommen

sich äußern in Miene, Wort und tausend freundlichen Gesten

und wie Zunder den Geist in Gemeinsamkeit entflammen,

so dass aus den Vielen eine Einheit wird –

Das ist’s, was man an Freunden liebt.[1]

Diese Gedanken sind von Augustin, einem Denker des 5. Jahrhunderts, und sie kommen mir so modern, so realistisch vor. Eine solche Freundschaft kann ich eingehen. Das überfordert mich nicht. An erster Stelle steht: Miteinander reden. Freundschaft braucht das Gespräch. Den regelmäßigen Austausch. Auch über die intimen Themen des Lebens wie Liebe, Gefühle. Und Religion.

Nachreligion

In einem theologischen Buch lese ich von: "Freundschaft als Nachreligion". Früher waren Gott, Kirche und Religion für ziemlich alle und überall verbindend und verbindlich. Seit der Aufklärung ist das nicht mehr so. Heute verbinden "weltliche Religionen". Zuerst sind Familie und vor allem die Liebe bei einem Paar zu einer weltlichen Religion geworden. Doch auch Liebe und Familie als Religionsersatz tragen heute nicht mehr so. Beziehungen wechseln, die Scheidungsrate liegt bei etwa 50 Prozent. Eine eigene Familie gründen ist nicht mehr selbstverständlich. Die meisten Haushalte in Deutschland sind Single-Haushalte. Die Generationen wohnen nicht mehr beisammen. Wenn zwei Einzelkinder ein Paar werden und Eltern eines Kindes, dann hat dieses weder Geschwister noch Tanten noch Cousinen.

Wenn sich Verwandtschaftsnetze so ausdünnen, bekommen Freundinnen und Freunde einen höheren Stellenwert. Klar, es ist mehr Zeit und Raum für Freunde in dem Lebenskreis, in dem ich gerade bin. Wenn Paare Eltern werden, oder Oma und Opa, also wenn man in einen neuen Lebenskreis geht, dann nimmt das Neugeborene und die eigene neue Aufgabe sehr viel Raum im eigenen Leben ein, und dann dünnen sich frühere Freundschaften aus, und neue entstehen, durch die Kinder. Es sind Lebensthemen, die verbinden. Und manchmal auch auseinanderführen.

Ob mit Verwandten oder Freunden: Die Kreise meines Lebens haben Grenzen. Man kann nicht unbegrenzt Beziehungen und Freundschaften pflegen. Auch nicht in der Familie. Bei Großeltern mit mehr als fünf Enkelkindern gibt es auch dichtere und dünnere Beziehungen, ähnlich wie bei Menschen mit Dutzendfreundschaften und xtausend Verlinkungen in den social media. Ich hab mal den Spruch gehört: Wenn du an einer Hand an jedem Finger einen Freund, eine Freundin hast, bist du ein reicher Mensch. Das wären fünf tiefe freundschaftliche Beziehungen – und das ist richtig viel.

Tiefe Freundschaften sind wie "Seelenverwandtschaft". Ich kenne das mit manchen meiner Freunde. Solche Freundschaft gibt mir etwas von dem, was auch Religion gibt: Ich bin verwurzelt im Leben. Ich bin verbunden mit anderen. Ich bin geborgen.

Jesus lebt Freundschaft in intensiver Form. In seinem engeren Kreis sind es Zwölf, die ganz nah bei ihm sind. Ich nenne euch Freunde, sagt er beim letzten Abendmahl. Es gibt keine größere Liebe, als dass einer sein Leben hingibt für seine Freunde.

Unter seinen Freund*innen fällt einer auf: Der Jünger, den Jesus lieb hat. Johannes nennt man ihn, auch wenn man seinen Namen nicht ganz genau weiß. Das Johannesevangelium geht auf ihn zurück, das von Jesus in einer sehr innigen, auch mystischen Weise erzählt, in dem ich eine ganz besondere Nähe des Evangelisten zu Jesus spüre. Es ist das einzige Evangelium, das von einem "Lieblingsjünger" erzählt. Wie beiläufig begegnen sich Jesus und dieser Jünger irgendwo unterwegs das erste Mal, Andreas, ein anderer Jünger von Jesus, ist auch dabei. Wo wirst du bleiben, Rabbi? fragen sie Jesus. Und der antwortet: Kommt und seht. Und sie kommen mit … und bleiben den ganzen Tag bei ihm. Es entsteht eine Freundschaft, die bleibt, die immer tiefer wird. Der Jünger, den Jesus lieb hat, bleibt und geht mit Jesus mit. Er spricht nicht viel. Er hört vor allem auf seinen Freund, mit dem Ohr und mit dem Herzen. Unaufdringlich, fast unauffällig ist er im Vergleich zu Petrus und anderen Männern und Frauen rund um Jesus. Der Lieblingsjünger "sieht" vieles tiefer als die anderen, er spürt das besondere Geheimnis von Jesus. Beim letzten Abendmahl liegt er an seiner Brust. Ganz nah. Verbunden. Und er steht mit Maria unter dem Kreuz. Verbunden, treu.

Am Johannesevangelium ist mir wichtig geworden: Glaube ist Beziehung, Freundschaft. Ihr seid meine Freunde, sagt Jesus zu seinen Jüngern, und ich fühle mich da mitgemeint, wir sind seine Freundinnen und Freunde. Glauben kann sowas sein wie: mit Gott, mit Christus befreundet sein.

Anam Cara

Im keltischen Christentum habe ich den alten Ausdruck Anam Cara entdeckt. Anam bedeutet "Seele", "Cara" bedeutet Freund. Der Anam Cara ist der Seelenfreund. Bei den Kelten wurde jemand Anam Cara genannt, der Lehrer, Gefährte und spiritueller Mentor ist. Ganz ursprünglich war der Anam Cara bei den Mönchen der Mitbruder, mit dem ein Mönch die Zelle teilt, bei dem er beichtet, mit dem er alles bespricht, was ihn bewegt. Der beste Freund und noch mehr, noch tiefer. Ich kann ihm mein Innerstes sagen. Er kennt mein Leben aus nächster Nähe. Es ist, als ob man schon seit jeher zusammen gehört, als ob die Seele in der anderen Seele einen verlorenen Teil ihrer selbst entdeckt. Ein Teil von mir ist "like you".

Anam Caras Seelenfreunde - so stelle ich mir die Freundschaft zwischen Jesus und Johannes vor. Eine Seelenfreundschaft, die auch mich berührt.

Johannes erzählt sein Evangelium als Freund, als Lieblingsmensch von Jesus, als Liebender. Als einer, in dem eine Seelenfreundschaft nachklingt und bleibt. Am Ende des Johannesevangeliums fragt Jesus Petrus nach seiner Liebe und Freundschaft und setzt ihn dann als Hirten ein. Und was wird aus dem Johannes, der Jesus gefühlt viel näher stand als Petrus?

Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte, der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen hatte: Als Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was wird aber mit diesem? Jesus spricht zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? (Joh 21,21-24)

Jesus spricht von einem geistlichen, einem mystischen Bleiben. Johannes bleibt für immer Teil der Geschichte und der Gegenwart seines Freundes. Dieses Bleiben, dieses einfach-nur-Dasein ist eine eigene Weise des Christseins: Ein mystisches Christsein. Bleiben in der Freundschaft mit Christus.

Wie sieht Freundschaft aus? Die Ausstellung "Like you" zeigt viele Fotos. Am liebsten würde ich Bilder von meinen Freundschaften und Lieblingsmenschen dazu legen. Freundschaft kann auch so aussehen wie diese alte Holzplastik: Zwei Männer, ein Älterer so in den Dreißigern, und ein Jüngerer. Der jüngere lehnt seinen Kopf an die Schulter, an die Brust des Älteren, und er legt seine rechte Hand in die Hand des älteren. Diese beiden Freunde sind Johannes und Christus. Johannes hat die Augen geschlossen und lächelt leise. Christus schaut versonnen in die Ferne, die ganz Gegenwart ist. Johannesminne heißt die Plastik. So kann sie aussehen: die Freundschaft mit Christus.

Kann ich auch so mit Christus befreundet sein? Ja, ich glaube: Ja!  Und wie das gehen kann, lerne ich von Kindern. Jedes dritte Kind hat einen "imaginären" Freund, so nennt das die Psychologie. Ein Roman (H.J. Ortheil, Erfindung des Lebens) erzählt von so einer Freundschaft.

"Da ich weder Freunde noch einen richtig guten Freund hatte, dachte ich mir ab und zu einen aus. Mein Freund hieß Georg, Georg war stark und freundlich und etwas größer als ich, leider war er nicht immer da, wenn ich mich auf dem Kinderspielplatz aufhielt. Wenn ich ihn dringend brauchte, kam er rasch vorbei und setzte sich neben mich, und dann spielten wir zu zweit oder unterhielten uns über die Zeitschriften, die wir uns gegenseitig ausgeliehen hatten."[2]

Der imaginäre Freund – hier heißt er Georg – ist eine große Stütze. Nur das Kind kann ihn sehen und hören und sich mit ihm unterhalten. Und wehe, jemand macht sich über diese Freundschaft lustig. So einen imaginären Freund zu haben, ist nicht irgendwie gefährlich und krankhaft, sondern hilfreich für ein Kind. Er ist da, er ist anders da, anders wirklich als Eltern und Geschwister, das weiß das Kind. So einen imaginären Freund hat ein Kind auch nicht für immer, sondern eine Phase lang.

Auch die Freundschaft zwischen Jesus und Johannes dauert eine Phase, einen Lebenskreis lang. Aber sie klingt weiter, ein Leben lang und durch das Johannesevangelium hindurch bis zu Ihnen und zu mir. Gott ist freund-lich. Christus nennt uns Freundinnen, Freunde. Und sagt: Ich bin alle Tage bei Euch. Wie ich mir das konkret vorstellen kann – das lerne ich bei Kindern mit einem Freund wie Georg.

Wenn ich ihn dringend brauchte, kam er rasch vorbei und setzte sich neben mich", sagt das Kind über den unsichtbaren Freund. "Ich bin bei euch alle Tage", sagt Christus - und kommt und setzt sich neben mich. Und ich bin nicht mehr allein. Als ob ich meinen Kopf an die Brust eines sehr guten Freundes lege. Wunderbar geborgen.


[1] zitiert nach Joachim Negel, Freundschaft. Von der Vielfalt und Tiefe einer Lebensform, Freiburg 2019, 6