"Wauwau!" - Die kleine Felicitas patscht auf den braunen Hund in ihrem Bilderbuch. Ihre Augen schweifen weiter über die Seite, bleiben an der Zeichnung einer Frau mit grauem Dutt hängen. Die Zweijährige gluckst vor Freude: "Oma!" - Obwohl das Buch aus dem Jahr 1968 stammt, gelingt es ihm noch heute, Kinder zu begeistern. "Rundherum in meiner Stadt" erhielt 1969 den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis. Es stammt von Zeichner Ali Mitgutsch. Nun ist der Mann, der nie ohne Stift und Papier aus dem Haus ging, am Abend des 10. Januars 2022 mit 86 Jahren gestorben.

"Ali Mitgutschs Werk hat in all den Jahrzehnten nichts an seiner Strahlkraft und Faszination verloren. Wir sind traurig, aber dankbar, dass wir ihn so lange begleiten durften", sagte der Vorstandsvorsitzende der Ravensburger AG, Clemens Maier, im Nachruf des Verlags. Und die Geschäftsführerin der Ravensburger Verlag GmbH, Anuschka Albertz, ergänzte: "Seine Bilder bringen mich bis heute zum Staunen und Lachen, immer wieder entdecke ich neue Details. Wir verlieren einen großen Künstler und Freund."

Mitgutsch hat die berühmten "Wimmelbücher" erfunden 

Mitgutsch gilt als Erfinder der "Wimmelbücher" - und tatsächlich wimmelt es in seinen Büchern auf doppelseitigen Bildern von detailliert gemalten Szenen mit Menschen und Tieren. Es gibt sie in verschiedenen Größen, für Kinder teilweise lebensgroß. "Bilder zum Reinkriechen", das sei als Kind sein Traum gewesen, erzählte der Münchner mit dem markanten weißen Bart zu Lebzeiten.

Stadt und Dorf, Gebirge und Gewässer: Mitgutsch entwarf Panoramen aus der Alltagswelt von Kindern. Er wollte vermitteln, dass sie nicht arm dran seien, bloß weil sie nicht in der Ritter- oder Prinzessinnenzeit lebten. Vielmehr passiere immer viel Interessantes. "Man muss es bloß sehen", sagte der Zeichner.

Kitaplatz-Knappheit, Flüchtlinge oder gar Corona: Aktuelle Themen fanden sich in der Welt der Mitgutsch-Bilder nicht. "Das ist alles eine Frage der Deutung", wehrte er sich gegen diese Auslegung. In manchen Bildern gebe es durchaus Ansätze, die sich kritisch mit der Gegenwart auseinandersetzen: "Denken Sie an das alte Ehepaar, das aus seinem Haus vertrieben wird, weil es einem Staudammbau weichen muss."

Außerdem seien seine "Leser" zwischen drei und fünf Jahre alt und fingen erst an, die Welt zu entdecken. "Wo Erwachsene Einfachheit sehen, sehen sie eine komplexe Welt", sagte Mitgutsch und betonte:

"Etwas einfach zu machen ist schwer, und man sollte nie die Kraft des Einfachen unterschätzen."

Mitgutschs Jugend ist geprägt vom zweiten Weltkrieg 

Mitgutsch kommt 1935 in München zur Welt. Kurz nach seinem vierten Geburtstag beginnt der Zweite Weltkrieg. Angst im Luftschutzkeller prägt den kleinen Ali - aber auch die Trümmerlandschaft Schwabings als riesiger Abenteuerspielplatz. Nächtliche Luftangriffe gehören zu seinen frühesten Erinnerungen, beschrieb er in seinem Buch "Herzanzünder - Mein Leben als Kind".

"Ich hätte gern eine ganz andere Kindheit gehabt", berichtete der Zeichner 2015 kurz vor seinem 80. Geburtstag, "eine unbeschwertere". Doch auch wenn sein Leben nicht immer einfach war, sei es erfüllt gewesen:

"Ich habe meinen Frieden gefunden."

Mitgutsch war gläubiger Christ 

Dass er als Kind häufig mit seiner sehr gläubigen Mutter auf Wallfahrten ging, spielt keine unwichtige Rolle für seine Karriere. Denn dabei lernt Ali Dioramen kennen, Schaukästen mit Modellszenen, an die er sich lebhaft erinnert: Sobald man fünf Pfennige in den kleinen Schaukasten wirft, geht ein Licht an und erleuchtet eine winzige Kirchenfassade. Dann öffnet sich eine Tür, auf einer Schiene fährt Bruder Konrad heraus und fällt auf die Knie. Er ertönen Glockenschläge und aus dem geschnitzten Kirchturm erscheint das Jesuskind.

"Für uns war das die reinste Zauberei", erinnerte sich Mitgutsch. Wie die Dioramen damals lässt er heute in seinen Bildern Geschichten entstehen - mit viel Platz für Fantasie. Die Kirche selbst kommt in seinen Arbeiten kaum vor. "Aber der christliche Glaube durchwirkt doch alles und ist lebendiger Teil meines Selbst", sagte er. Glaube bestimme seine Werte:

"Da hat meine Mutter schon ganze Arbeit geleistet."

Mitgutsch engagierte sich für das Wohl der Gesellschaft 

Ein großes Thema im Leben des Zeichners war die Beschäftigung mit Heimat, wie Ingmar Gregorzewski beschreibt. Der Publizist arbeitete seit 20 Jahren mit Mitgutsch zusammen, hat auch seine Lebenserinnerungen aufgezeichnet. Zu oft habe für ihn sein Zuhause auf dem Spiel gestanden: Es war Krieg, und das Kind Ali wollte einfach sicheren Boden spüren.

Ab 2007 konzentrierte er sich auf das Schaffen seiner "Traumkästen", kleine gerahmte Bühnen. In seinen letzten Jahren kämpfte Mitgutsch zum Beispiel für Mieterrechte. Zum Thema Heimat gehörte für ihn auch die Frage nach Nachbarschaft. "Für mich ist die Nähe der Menschen untereinander wichtig", beschrieb der Münchner: einander kennen, sich grüßen, aufeinander achtgeben.

Seit 2017 war er im Ruhestand und hatte sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Mit dem Alter nahmen seine Kräfte ab, den Humor verlor er jedoch nie, teilte sein Verlag mit und zitierte ihn: "Das Zeichnen war für mich eine unendlich lange, oft auch beschwerliche, aber stets glückliche Lebensreise, auf die mir nur noch die Rückschau bleibt."