Als Komponist hat Enjott Schneider ein gewaltiges musikalisches Werk geschaffen - von Oratorienund Symphonien und Kammermusik bis hin zu Orgelwerken und Kirchenmusik. Einen Namen hat er sich vor allem durch seine Filmmusik gemacht, wie etwa Herbstmilch, Stalingrad oder Schlafes Bruder.

Zu seinem 70. Geburtstag beschreibt Schneider, der auch Präsident des Deutschen Komponistenverbandes ist, das Verhältnis von Musik zu Natur und Religion, warum von der Kirchenmusik keine neuen Impulse ausgehen und die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Musikbetrieb.

Zu Ihrem umfangreichen musikalischen Werk Schaffen gehören auch kirchliche oder theologische Themen, wie etwa ein Luthermosaik oder eine Motette. Wie sehen Sie das Verhältnis von Religion und Musik?

Enjott Schneider: Die Musik war schon immer einer Rückbindung an die Re-ligio (von religare = rückbinden) und hatte ihren Ursprung im Religiösen. In jeder kultischen Handlung bewirken Klänge den Übergang ins Numinose, wie beispielsweise die Trommel bei den Schamanen, die Orgel bei der Wandlung oder der Didgeridoo bei den australischen Aborigines.

Denn die Welt ist das Wellende und besteht - in subatomaren wie in galaktischen Dimensionen - nur aus Schwingungen, aus Frequenzschichtungen. Musiker sind also die Fachleute für Wellen und Schwingungen, aus denen sich alle Materie konkretisiert. Es gibt deshalb keine Religion ohne die Musik als dem Weg ins Welt-Innere.

Gerade in der evangelischen Kirche spielt die Musik eine große Rolle als emotionale Ergänzung des Wortes. Erwarten Sie deshalb von dieser Kirche neue Impulse für die Kirchenmusik, für die Musik im Allgemeinen?

Schneider: Natürlich wünsche ich mir die Impulse, habe aber wenig Hoffnung. Denn was ich an Neuem höre, sind meist schlagerartige, eher flache Melodien und sattsam bekannte Rhythmus-Muster in abgestandener Gospel- oder Kommerzjazz-Tradition. Die Kirchenmusik müsste wieder den reinen, von Geheimnis getragenen, und nicht von Pseudopopularität überlagerten Klang entdecken. Mysteriöse und in ihrer Schönheit fremdartig-rätselhafte Klänge, die den Zuhörer fesseln und ihn zu Wegen des Entschlüsselns reizen.

An vielen Texte hat man sich totgehört, sie sind zu Worthülsen verkommen wie etwa ein Kyrie Eleison. Aber durch eine geheimnisvolle Vertonung können diese Worthülsen wieder eine neue Magie bekommen und die Gläubigen fesseln.

Genauso funktioniert übrigens Filmmusik: die Kamera zeigt etwas ganz Banales, etwa eine Bergwand; aber die geheimnisvolle unbekannte Musik bringt ein Schillern in dieses hülsenhaft Bekannte, und plötzlich geht via Musik das Tor auf in eine innere Welt, in eine andere Dimension jenseits der äußeren Fassade. Solche Musik zu schreiben und zu erleben, wie anscheinend Bekanntes in eine Welt der Rätsel kippt, das ist für mich wie ein Narkotikum.

Sie haben immer wieder gesagt, dass Musik als Kunst konträr zu Kommerz und Kapitalismus stehe. Gilt das auch für die Filmmusik, die ja wesentlich zu dem Gesamtkunstwerk eines Filmes und damit auch zu seinem kommerziellen Erfolg beiträgt?

Schneider: Wer Filme nur wegen des kommerziellen Erfolgs macht, hat schon im Vornherein verloren! Man muss alle Projekte - ob Filmmusik oder ein Chorwerk - aus einer inneren Wahrhaftigkeit, als Ausdruck einer ehrlichen Emotion und Suche machen. Den Ausspruch eines Hugo von Hofmannsthal Des Teufels Netzwerk in der Welt, hat nur den einen Namen: Geld! habe ich schon -zig Mal in seiner Richtigkeit erkennen dürfen:

Alle meine künstlerischen Arbeiten, die nicht nach dem Geld schielten (und gerade die unterbezahltesten Jobs), sind die schönsten und bewegendsten Werke geworden, - wie etwa die Filmmusik zu Vilsmaiers Erstling Herbstmilch, die nahezu gratis entstanden ist. Man kann Erfolg und Qualität nicht mit Geld kaufen - so wenig wie man auch Liebe nicht mit Geld kaufen kann.

Ein Komponist muss vorrangig aus Leidenschaft zum Thema, zum Projekt und letztlich aus Liebe zu den Menschen arbeiten, denen er etwas mitteilen möchte.

Daher ist für mich die Musik und die Kunst als Ganzes der große Gegenentwurf zu dem immer krasseren Egoismus und der Selbstbezogenheit unserer Zeit. Musik ist von ihrem Wesen her verbindend, konsonant, also zusammenklingend, und geht in ihren reinsten Formen ohne Geltungs- und Profitsucht auf die anderen Menschen zu. Die Musik beleuchtet die Innenseiten der Welt, die unsichtbaren Qualitäten, das Seelenleben der Menschen, wo es kein Schnickschnack, keine Mode und kein Konkurrenzgehabe gibt.

Sie haben ein immenses Werk geschaffen in den unterschiedlichsten musikalischen Gattungen. Was ist Ihr Erfolgsrezept, wie holen Sie sich Inspiration?

Schneider: Die Produktivität rührt wohl daher, dass ich mich einerseits extrem konzentrieren und abschotten kann, wenn ich komponiere. Nur in der Stille funktionieren die Antennen der Intuition. Andererseits öffne ich mich aber auch extrem nach Außen. Zu meinen Studierenden sagte ich immer: Seid wie die Kinder, wie ein Schwamm, der alles aufsaugt; ewige Neugier und Wandlung ist der Schlüssel zur Kunst!

Ich gehe in alle Erdteile, um immer wieder Fremdling zu sein, nehme mit Menschen aller Couleurs und Schichten Kontakt auf und öffne mich vor allem der Lehrmeisterin Natur: Bäume, Pflanzen, Steine, Tiere, Gewässer. Wer sich hier öffnet und deren Kosmos wahrnimmt, der hat immerwährend Inspiration, weil er täglich Wunder im Einfachen erlebt.

In Ihrem Beruf haben Sie es mit renommierten Spezialisten und Profis zu tun. Sie arbeiten aber mitunter auch mit Laien, wie dem Münchner Motettenchor zusammen, für dessen 50. Jubiläum Sie sogar mit Orbe Rotunde eine Weiterführung der Carmina Burana geschrieben haben. Ist das für Sie überhaupt reizvoll?

Schneider: Sehr sogar. Ein Berufschor, von dem man professionell Leistungen abrufen kann, ist fast ein Widerspruch in sich! Das Faszinierende am Chor ist das Kollektive, das Zusammenwachsen im Wir! durch harte Arbeit und Selbstfindung. Der routinierte Berufs-Opernchor, der jeden Abend zwar auf höchstem Niveau, aber letztlich schablonenhaft agiert, kann leicht zum abschreckenden Zerrbild eines Chores werden.

Im Laienchor wird oft - gerade wenn man strebend arbeitet und gute Stimmbildung betreibt - aus unauffälligen Einzelmitgliedern ein großes Ganzes, das weit mehr ist, als nur die Summe der Teile.

Wenn dann noch Leidenschaft, Motivation und Freude am Musizieren dazu kommen, dann hat ein hochqualitatives Ensemble wie beispielsweise der Münchner Motettenchor eine unbeschreiblich lebendige Ausstrahlung.

Am 28. Juni war ein Jubiläumskonzert zu 60 Jahren Motettenchor, 75 Jahren Münchner Symphoniker, 125 Jahren Carl Orff, 250 Jahren Ludwig van Beethoven und nicht zuletzt Ihrem 70. Geburtstag geplant, das jetzt der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen ist. Könnten Sie sich dieses besondere Konzert auch im nächsten Jahr vorstellen?

Schneider: Wir wollten ja in der Münchner Philharmonie mit diesem Konzert mein Orbe Rotundo für CD aufnehmen. Das lässt sich zweifellos 2021 auch noch machen. Aber die Aura der Einmaligkeit eines fünffachen Geburtstages, - die ist unwiederbringlich verloren.

Wie hat sich die Corona-Krise auf den Musikbetrieb ausgewirkt?

Schneider: Ich spüre ein riesengroßes Bedürfnis nach Live-Musik in Echtzeit, in einer verbindenden Gemeinschaft mit anderen Menschen. Dafür waren die online-Übertragungen im Netz mit ihrer sekundenlangen Verzögerung überhaupt kein Ersatz, es waren Einbahnstraßen der Kommunikation. Bei lebendiger Musik findet Resonanz und Rückkopplung im Nanosekundenbereich statt, - Geben und Nehmen. Live zu musizieren bedeutet inspirieren und dabei vom Gegenüber inspiriert werden, - wie bei einem dialogisierenden Liebesspiel. Das geht via Internet niemals. Persönlich sehe ich aber in der Corona-Krise auch eine große Chance.

Eine Gesellschaft, die sich in Hamsterrad, Ökonomisierung des Denkens, in computergetriebener Beschleunigung und profitgetriebener Zerstörung des Planeten verrannt hat, brauchte anscheinend diese globale Katastrophe, um zur Vernunft zu kommen.

Wer jetzt nur schnell alles wieder ins alte ökonomische Fahrwasser der materialistischen Ausrichtung kriegen will, hat nichts dazugelernt. Deshalb gäbe es viel zu grübeln.

Es ist ein einmaliges Experiment, das gerade erleben zu dürfen. Wir lernen die Welt und uns so klar zu erkennen wie kaum zuvor, kreative neue Ideen kommen gratis dazu. Das sage ich bei allem Respekt vor den desaströsen Sorgen und dem riesigen Leid. Aber das weit schlimmere Elend der 50 Millionen Flüchtlinge und Verhungernden weltweit gab es by the way auch schon vor Corona. Mir tut es weh, wie wir das momentan aus Selbstfixierung alles in den Hintergrund rücken lassen.

Was wünschen Sie sich für Ihr neues Lebensjahrzehnt?

Schneider: Zunächst bin ich sehr dankbar, dass ich auch in Zukunft als Komponist weiterarbeiten kann. Ich darf weiterhin mit meiner Berufung die innere Welt, die Seele des Seins ausdrücken. Und die Seele altert bekanntlich nie, Innen bleibt man jung wie ein Kind. Wäre ich Trompeter oder Geiger, dann müsste ich auf das physische Altern mehr Rücksicht nehmen.

Mit dem quasi körperlosen Phantasieren und der geistigen Arbeit ist eine Grenzenlosigkeit garantiert, auch wenn das globale Reisen anstrengend ist. Ich freue mich also weiterhin auf Spaziergänge in der Natur und auf den Kontakt mit Menschen, die achtsam und authentisch sind, die die Schöpfung Gottes lieben. Mit denen will ich gerne noch lange auf einer Wellenlänge sein und mich musikalisch - jenseits von Worten und Begriffen - austauschen.