Emily liegt auf dem Schoß ihrer Mutter, unruhig geht der Kopf hin und her. Sandra Thiele (39) stützt die Zweieinhalbjährige mit dem Arm, schaukelt sie sanft. Emily ist geistig behindert, kann nicht laufen, sitzen, krabbeln oder sprechen. "Emily ist unser Wunder", sagt die Mutter. "Wir tun alles, damit es unserer Püppi gutgeht. Wir wissen ja nicht, wohin die Reise geht und wie lange wir sie noch haben", sagt Vater Henning (41), lächelt Emily ins Gesicht und streichelt ihren Fuß. Emily lacht.

Dass die Thieles aus Schöningen bei Braunschweig die Dreisamkeit auf dem Sofa genießen können, ist nicht selbstverständlich. Schon vor Emilys Geburt hatten die Ärzte bei ihr eine Holoprosencephalie diagnostiziert, eine der häufigsten angeborenen Gehirnfehlbildungen. Die meisten Kinder sterben daran schon im Mutterleib. Die Ärzte gaben auch Emily nur geringe Überlebenschancen.

Einsame Entscheidung

Als Sandra Thiele von Emilys Krankheit erfuhr, habe sie tagelang nur geweint, erzählt die gelernte Bürokauffrau. "Ich war verzweifelt und wollte es einfach nicht wahrhaben." Ärzte hätten dem Paar einen Schwangerschaftsabbruch nahegelegt. Eine Geburt würde ihre Tochter, wenn überhaupt, nur kurz überleben. Emily abtreiben zu lassen, kam für die Thieles nicht infrage: "Ich habe doch gespürt, wie sie getreten hat", sagt Sandra Thiele. Aber sie planten bereits Emilys Beerdigung. Wie es sein würde, wenn ihre Tochter doch überlebte, habe ihnen vorher niemand gesagt, erzählen die Eltern.

Die Thieles hätten sich damals gewünscht, dass ihnen jemand zur Seite steht, sagen sie. Jemand wie die Hebamme und Trauma-Fachberaterin Uli Michel oder wie die Kinderhospiz-Expertinnen Isa Groth und Claudia Langanki. Sie begleiten Paare und Frauen, die ein Kind mit lebensverkürzender Erkrankung erwarten.

"Mit der Diagnose werden die Frauen und Familien meistens alleingelassen", sagt Langanki.

Das Kinderhospiz "Bärenherz"

Sie hat bis 2018 elf Jahre lang das Kinderhospiz "Bärenherz" in Wiesbaden geleitet. Damals habe sie viele Anfragen von Menschen erhalten, die in einer ähnlichen Lage wie die Thieles waren. Nach ihrer Pensionierung eröffnete sie unter dem Dach des Kinderhospizes im Oktober 2018 die bundesweit erste Begleitung für werdende Eltern mit lebensverkürzend erkrankten Ungeborenen sowie für Eltern bei stiller Geburt.

Zwar bieten Kliniken eine psychosoziale Beratung und Vereine wie Donum Vitae oder Pro Familia eine Schwangerschaftsberatung an. Doch die Unterstützung dort umfasse längst nicht alle Herausforderungen, vor denen die Familien stünden, sagt Langanki. Kaum jemand begleite die Familien durch die gesamte Zeit von der Diagnose bis über die Geburt und den Tod hinaus.

Die werdenden Mütter und Väter hätten gerade zu Beginn viele Fragen, sagt Uli Michel, Leiterin der Bethanien Sternenkinder Beratungsstelle im westfälischen Lengerich. Sie wollten wissen, wie die Krankheit sich entwickle, ob ihr Kind leide, wie lange es überlebe und wie es nach der Geburt weitergehen könne. "Ich führe mit ihnen so viele Gespräche wie sie benötigen, auch mit Geschwistern und Großeltern. Und ich gehe alle Wege mit."

Gemeinsam entscheiden

Isa Groth betont, es gehe nicht darum, den Eltern Entscheidungen etwa für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch abzunehmen oder sie in eine Richtung zu beeinflussen. "Wir überlegen mit ihnen gemeinsam, wie das Leben für sie mit der einen oder anderen Entscheidung aussehen könnte." Groth ist Koordinatorin beim Kinderhospizstützpunkt Löwenherz in Braunschweig und bietet seit September 2020 zusätzlich eine vorgeburtliche Begleitung an. Sie sagt: "Die Diagnose, ein sterbenskrankes Kind zu erwarten, ist für die Familien wie ein Tornado, der ihnen alles wegreißt und nichts heile lässt."

Die Tochter von Sandra und Hennig Thiele kam mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt. Emily habe stundenlang geschrien, kaum trinken können, erzählt Sandra Thiele. Ärzte und Schwestern hätten ihnen gesagt, sie sollten sie sterben lassen. "Aber Emily hat gekämpft", sagt die Mutter. Nach vier Tagen haben sie und ihr Mann sie mit nach Hause genommen, obwohl sie nicht wussten, wie sie Emily versorgen sollten.

"Wir waren verzweifelt und hilflos."

Durch Zufall hatten die Thieles kurz zuvor vom Kinderhospizstützpunkt "Löwenherz" in Braunschweig erfahren. Sie riefen dort an und Koordinatorin Isa Groth kam sofort. Sie brachte Emily mit ihren Eltern als Notfall ins stationäre Kinderhospiz nach Syke. Damals plante Groth bereits das Angebot einer vorgeburtlichen Begleitung. "Isa hat uns Mut gemacht und wir waren nicht mehr allein", sagt Sandra Thiele.

Erholung für die Eltern

Das Personal im Kinderhospiz, in dem Eltern mit unheilbar kranken Kindern für ein paar Wochen im Jahr eine Auszeit genießen können, nahm ihnen die Pflege ab. Die Fachkräfte erklärten den Umgang mit einem speziellen Sauger, damit Emily endlich trinken konnte, zeigten, wie sie Emily beruhigen konnten. Und sie vermittelten ihnen den Kontakt zu einer anderen betroffenen Familie. Isa Groth unterstützte sie danach noch ein paar Wochen lang.

Auch wenn Emilys Lebensweg irgendwann zu Ende geht, wird die ausgebildete Trauerbegleiterin da sein - falls Sandra und Henning Thiele sich das wünschen. Groth, Langanki und Michel stehen den Frauen und Familien im Sterbeprozess der Kinder, beim Abschiednehmen, bei der Vorbereitung der Trauerfeier und in den Monaten oder Jahren der Trauer beiseite.

Für die Thieles ist der Alltag mit Emily immer noch herausfordernd. Ihre Lippen-Kiefer-Gaumenspalte wurde operiert. Aber ihre Nierenfunktion ist eingeschränkt. Sie isst sehr langsam. Wenn sie krank ist, nimmt sie stark ab. Emily schläft nur wenig, weil ihr Körper zu wenig Melatonin bildet. "Sie hält alle auf Trab", sagt der Vater lachend.

Aber die Thieles sind glücklich mit ihrer Tochter. "Wir genießen jeden Tag", sagt Henning Thiele, der bald wieder in seinen Beruf in der Autoproduktion einsteigen will. Seine Frau ergänzt: "Im Moment ist alles super und ich habe das Gefühl, unsere Reise geht noch weiter." Emily hat sogar schon einen Krippenplatz.