Vor dem 30. Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen hat die Rostocker Politologin Gudrun Heinrich einen breiten gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Rassismus angemahnt. Die notwendigen Konsequenzen aus den damaligen Ereignissen müssten vielfältig sein, sagte die 57-Jährige in einem Interview des Sonntagsblatt.

"Es geht um eine differenzierte Erinnerungs- und Gedenkkultur, die das Ziel verfolgen sollte, einen breiten Diskurs in vielen Teilen der Gesellschaft zu ermöglichen."

Öffentlich wahrnehmbare Erinnerungsorte seien dabei ein wichtiger Baustein.

Die passende Form der Auseinandersetzung finden

Eine inhaltliche Festschreibung der Pogrome von 1992 in Curricula von Schulen sehe sie problematisch. "Wir brauchen eher schulische Rahmenpläne, die es ermöglichen, das Thema Rassismus und Rechtsextremismus anzusprechen und dann eine auf die Klasse passende Form zu finden." Das müsse nicht immer "Rostock Lichtenhagen 1992" sein, hier könnten auch andere Beispiele und Fragestellungen gefunden werden.

Kirchen sollen selbstkritisch Anteil an Rassismus reflektieren

Von den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften wünsche sie sich, selbstkritisch ihren Anteil an der Entstehung und dem Erhalt rassistischer Narrative zu reflektieren und einen offenen Diskurs zu wagen. "Eine Stellungnahme top down verändert hier wenig, ein Diskussionsprozess in den Gemeinden sicherlich mehr", sagte die promovierte Politologin. Zur Frage der Rolle der christlichen Kirchen im Bereich Antisemitismus sei schon einiges passiert. Aber bei Fragen des Antiziganismus und des Rassismus insgesamt könne noch mehr getan werden.

Vor 30 Jahren: Schwere Ausschreitungen

Vor 30 Jahren, vom 22. bis zum 26. August 1992, ereigneten sich im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen die schwersten rassistisch motivierten Ausschreitungen nach der Wende. Im Verlauf der vier Tage gerieten dabei 150 Menschen in akute Lebensgefahr, nachdem ein Wohnhaus vietnamesischer DDR-Vertragsarbeiter in Brand gesetzt worden war. 

Die Gewalt, die sich durch Parolen, Sprechchöre, Steine und schließlich Brandbomben ausdrückte, richtete sich gegen die damalige Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende, gegen Wohnungen der Vietnamesen und gegen die Polizei. Zu den Tätern gehörten auch Rechtsextremisten aus ganz Deutschland. Die Krawalle einiger hundert Gewalttäter wurden durch 2.000 bis 3.000 Sympathisanten und Schaulustige vor Ort unterstützt.

Polizei kann Gewalt nicht beenden

Die Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen war im "Sonnenblumenhaus" untergebracht, einem elfstöckigen Plattenbau aus DDR-Zeiten. Nachdem es der Polizei drei Tage lang nicht gelungen war, die Gewalt zu beenden, wurden die Asylsuchenden am Nachmittag des 24. August in Bussen evakuiert. Am Abend desselben Tages wurde die Polizei für zwei Stunden abgezogen. Mit Molotow-Cocktails setzten Gewalttäter das angrenzende Wohnheim der Vietnamesen in Brand.

Die in diesem Haus verbliebenen Menschen - darunter 120 vietnamesische Vertragsarbeiter, ein fünfköpfiges Fernsehteam des ZDF sowie einige Rostocker - drohten an Rauchvergiftung oder durch das in den unteren Stockwerken entstandene Feuer zu sterben. Die Flucht über das Dach in einen anderen Hausaufgang rettete ihnen schließlich das Leben.

Hintergründe der Pogrome

Zu den Ursachen der Gewalt sagte die Politologin Heinrich, die beginnenden 1990er-Jahre seien in Deutschland durch einen aggressiven Diskurs zur Änderung des Asylrechts geprägt gewesen. Dieses sei nach Rostock-Lichtenhagen auch massiv beschnitten worden.

"Es gab eine bundesweit sichtbare fremdenfeindliche und rassistische Prägung der Diskurse in den Medien – auch wenn natürlich viele dagegen argumentierten und auf die historische Verantwortung Deutschlands hinwiesen und ein liberales Asylrecht forderten."

Dazu sei die Herausforderung der Transformation in den neuen Bundesländern gekommen. Das alte System sei noch nicht komplett abgewickelt gewesen, die Strukturen des neuen Staates noch nicht fest etabliert. "Vor allem Verwaltung, aber auch Justiz und Polizei waren davon geprägt."