Der Gemeindesaal der Kirchengemeinde, in der ich aufgewachsen bin, sah so aus, wie Gemeindesäle auszusehen haben, zumindest in den 90er Jahren: Gesangbücher, gestapelte Stühle in den Ecken, bodenlange Vorhänge, Parkettboden. Dort fanden der Konfi-Unterricht und der Kindergottesdienst statt und dort feierten wir einmal im Monat am Samstag Abend Taizé-Gebet. Wir stellten Kerzen auf orange und gelbe Stofftücher und legten Liederhefte aus.
In der Kirche wäre es zu kalt und zu ungemütlich gewesen. Vor dem Gebet aber hängten wir immer das "Hungertuch" von der Wand ab. Ich weiß nicht warum, vielleicht weil es durch sein großes Format von den Kerzen abgelenkt hätte? Und ich wusste vor allem nicht, was das eigentlich für ein Tuch war: Es war ungefähr 2x2 m groß und bunt, das weiß ich noch. Und es waren Menschen mit dunkler Hautfarbe darauf abgebildet. Für mich mit 14 Jahren war deshalb klar: Das hatte irgendwas mit Afrika zu tun, wo die Menschen Hunger hatten. Vielleicht eine Erinnerung daran, dass man Geld spenden sollte?
"Wie ist Jesus weiß geworden?"
Vor ein paar Wochen habe ich das Buch "Wie ist Jesus weiß geworden" der Theologin Sarah Vecera gelesen. Sie schreibt über Rassismus in der Kirche und wo er verborgen oder ganz offen in unseren kirchlichen Strukturen stattfindet.
Sie erzählt eindrücklich und nüchtern zugleich von ihrer eigenen Geschichte als Schwarzer Frau in einer weißen Kirche und gibt ihren Leser*innen die Chance, sich selbst zu fragen, ob ihnen dieses Thema überhaupt irgendwie bekannt vorkommt - oder ob sie sofort sagen "Rassismus? Ich kenne keine Hautfarben - ich sehe nur Menschen!" - ein Satz, wie ihn nur jemand sagen kann, der noch nie aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wurde: schief angeschaut, nach seiner "eigentlichen" Herkunft gefragt, als anders betitelt.
Wo steckt mein Rassismus?
Und natürlich hab ich mich beim Lesen gefragt, wo mein Rassismus steckt. Und gleichzeitig gehofft, dass ich keinen finde. Und dann ist mir das Hungertuch eingefallen. Ich hab es vor mir gesehen mit seinen Bildern mit den People of Color und kam zum ersten Mal auf die Idee, nachzuforschen, was das denn eigentlich für ein Tuch war: Hungertücher heißen eigentlich Fastentücher und es gibt sie bereits sehr lange. In der Fastenzeit verdeckte man mit diesen liturgischen Tüchern den vorderen Bereich der Kirche, so dass man nur noch zuhören konnte und den Altarraum nicht mehr sehen konnte: Man fastete also nicht nur körperlich, sondern auch "optisch": ohne Gold, Schmuck und Bilder.
Das Hungertuch in meinem Gemeindesaal hab ich tatsächlich im Internet gefunden. Und festgestellt: Da waren gar keine "armen schwarzen Menschen in Afrika" dargestellt. Sondern biblische Geschichten mit realistisch gemalten Menschen: mit dunkler Haut, schwarzen Haaren. Meine Gedanken hatten eine Abkürzung damals genommen, eine Gutmenschen-Abkürzung, geprägt von den Spendenaktionen für Äthiopien mit Bildern hungriger Kinder. Dieselben Kinder, die auch auf den weißen Spendendosen abgebildet waren, mit denen wir als Konfis zur Haustürsammlung losgeschickt wurden.
Der weiße Retter
Sarah Vecera schreibt dazu in ihrem Buch:
"Wenn sich Eurozentrismus mit dem Gebot der Nächstenliebe paart, sind wir schnell beim Thema White Saviorism (weiße oder westliche Retter*innenschaft). In der Idee des globalen Westens, der Welt zu helfen, steckt so viel mehr Kolonialismus, als wir uns meist überhaupt bewusst sind. White Saviorisms etablierte sich vor allem in der Kolonialzeit und hält sich bis heute am allerstärksten in unseren Kirchen, weil dieses Narrativ so eng verknüpft wurde mit dem Grundgedanken von Nächstenliebe in der Bibel." (S.139)
Ja, dachte ich, genau das. Und dachte als nächstes an den strahlend weißen Jesus, der als Auferstehender in meine Heimatkirche an die Decke gemalt war. Ja, der sah anders aus als die Bibelszenen auf dem sogenannten Hungertuch. Er war weiß geworden.
"Man weiß gar nicht mehr, was man sagen darf"
Ich habe lange mit diesem Text gehadert. Obwohl ich Sarah Vecera schon lange auf Instagram folge, ihr Buch gelesen habe, mich über rassistische Sprache informiere und mich für recht wortgewandt halte, wollte ich sie am liebsten bitten, diesen Text vor seiner Veröffentlichung gegenzulesen. Aus Angst, Formulierungen zu verwenden, die sie und andere People of Color verletzen könnten.
Aber ganz ehrlich: Auch aus Angst, genau dafür dann kritisiert zu werden. "Weiße Zerbrechlichkeit" nennt man das: "Man weiß ja gar nicht mehr, was man noch sagen darf!" Aber indem man sowas sagt, scheinbar ahnungslos und mit erhobenen Händen dreht die Beweislast um: Auf einmal müssen sich Menschen, die diskriminiert werden, sich eben dafür verteidigen. Und "beweisen", dass es sie wirklich trifft und ja, dass man das N-Wort wirklich nicht sagen darf. Einfach nicht sagen darf.
Wir alle tragen dazu bei, dass Menschen verletzt werden
Fühlen Sie sich ertappt? Ich mich auch. Aber "unsere" weiße Überforderung darf nicht der Grund sein, rassistische Darstellungen, Ausdrucksweisen und Strukturen einfach so stehen zu lassen. Denn damit tragen wir alle dazu bei, dass Menschen verletzt werden. Und ja, das kann Streit mit sich bringen. Konflikte mit Kolleg*innen, im Kirchenvorstand, am Geburtstagstisch. Aber wie hat Jesus laut der Bibel gesagt?
"Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert."
Es gibt Momente, da muss man widersprechen, dagegenhalten, verbessern. Wenn Jesus weiß gemalt ist und die Menschen, die Hilfe brauchen, schwarz. Wenn jemand sich anmaßt, er könne darüber entscheiden, was für eine andere verletztend ist und was nicht. Es geht nicht immer um den Frieden als das höchste Ziel. Denn manchmal ist unser Friede der Krieg der anderen. Er tobt in ihnen. Wie tausend Nadelstiche.
Wir brauchen nur Mut
Ein Frieden, der lieber schweigt, ist ein Frieden der Mächtigen. Derer, die in der weißen privilegierten Mehrheit sind. Ein Frieden, der die anderen im Krieg allein lässt, anstatt an ihrer Seite zu kämpfen. Wir brauchen dazu keine Waffenlieferungen, zum Glück. Nur den Mut, das weiße Rauschen in unseren Gedanken zu hinterfragen.
Es ist nicht die Aufgabe von PoC, der weißen Kirche zu erklären, was alles falsch läuft. Viele Aktivist*innen tun genau das trotzdem. Und gleichzeitig ist Veceras Buch das erste, das sich explizit mit dem Thema "Rassismus und Kirche" auseinandersetzt. Weil wir anscheinend immer noch denken, "bei uns in der Kirche" wäre alles gut. Das ist es nicht (übrigens auch bei anderen Themen nicht….).
In unseren Gemeinden, Gremien, in unseren Bildern und Gebeten tragen wir dazu bei, rassistische Stereotypen zu reproduzieren. Wir müssen damit aufhören. Jetzt. Nicht aus Nächstenliebe. Sondern weil nur eine anti-rassistische Kirche eine Kirche Jesu Christi sein kann.
Wie ist Jesus weiß geworden?
Von Anfang an war die Kirche für alle Menschen gedacht. Trotzdem gibt es auch in ihr rassistische Strukturen, die weißen Menschen meistens gar nicht auffallen. Sarah Vecera macht auf diese Strukturen aufmerksam und erklärt, wie jeder und jede etwas dagegen tun kann. So will sie ermutigen, im Sinne des christlichen Glaubens eine Kirche zu gestalten, in der sich jede*r willkommen und angenommen fühlt.
Erschienen im Patmos-Verlag, 200 Seiten, 19 Euro.