Das Grundgesetz feiert 75. Geburtstag – und natürlich sind sich alle einig, was das für eine gute und schöne Sache ist. Stimmt ja auch. Auf dem Papier ist die deutsche Verfassung einfach großartig. In der Praxis allerdings gibt es immer weniger Anlass, stolz zu sein. 

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist nicht nur ein sehr starker Satz. Es ist auch der erste Artikel des Grundgesetzes. Menschenwürde. Unantastbar. Was könnte es besseres geben? 

Menschenwürde wird immer öfter angetastet

Nur: Papier ist geduldig. In der Praxis wird die Menschenwürde leider immer öfter sehr wohl angetastet. Und ich meine ausnahmsweise nicht die ebenfalls besorgniserregende Steigerung von rassistischen und queerfeindlichen Gewalttaten. Noch beunruhigender ist, dass auch der Staat selbst und seine Institutionen zunehmend autoritäre Tendenzen aufweisen und Grundrechte von Menschen immer öfter ohne erkennbaren Grund ausgesetzt werden.

Da wäre zum Beispiel das zumindest in Teilen völlig überzogene Vorgehen der Polizei gegen Proteste. Bis Herbst letztes Jahr richtete sich dieses noch hauptsächlich gegen Klimaproteste, mittlerweile sind es Proteste, die ein Ende des Kriegs in Gaza fordern. In beiden Fällen muss man die Forderungen der Protestierenden gar nicht in jedem Punkt teilen, um besorgt zu sein, mit welcher Härte gegen größtenteils friedlich Demonstrierende vorgegangen wird. 

Einschränkungen der Versammlungsfreiheit

Diese Entwicklung stößt auf immer mehr Unverständnis. Schon Ende letztes Jahr hatte das Deutsche Institut für Menschenrechte vor unverhältnismäßigen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit gewarnt. Ähnlich äußerten sich nun kürzlich Hochschulprofessor*innen, die besonders den Umgang mit Protestcamps an Universitäten kritisierten. Der Polizeirechtler Clemens Arzt betonte dabei, seit der Corona-Pandemie beobachte er eine zunehmend repressive Auslegung und damit eine Einengung der Versammlungsfreiheit durch die Exekutive. 

Was den letzten Punkt angeht, können wir alle uns auch einmal kritisch fragen, ob wir in der Corona-Zeit nicht viel zu unbekümmert teilweise recht drastische Einschränkungen von Bewegungs- und Versammlungsfreiheit hingenommen haben. Ich persönlich ertappe mich im Nachhinein dabei, dass ich ohne zu zögern Grundrechtseinschränkungen von Andersdenkenden, den sogenannten Querdenker*innen, befürwortet habe. Sicher war das zum Teil auch dem Ausnahmezustand geschuldet, in dem sich Deutschland damals befand. Doch ein Mindestmaß an Respekt vor der Meinung Andersdenkender wäre dennoch sicher möglich und angebracht gewesen. 

Wie es besser geht, zeigte der Staat beim Umgang mit den Bauernprotesten Anfang dieses Jahres: Auch wenn er hier hart kritisiert wurde, hielt er sich in seiner Reaktion zurück, ließ auch Störungen der öffentlichen Ordnung (die nun mal Teil eines jeden Protests sind) geschehen, ohne überzureagieren. 

Entmenschlichung von Migrant*innen

Auch die Debatte um Migration und den Umgang damit gibt Anlass zu großer Sorge. Obwohl rassistische Töne in diesem Bereich schon immer eine Rolle spielten, ist inzwischen ein Zustand erreicht, den man nur noch als hysterisch und neurotisch beschreiben kann. Das Framing von Zuwander*innen als grundsätzlich gefährlich, bedrohlich, zurückgeblieben, hinterhältig ist bis tief in die Mitte der Gesellschaft enttabuisiert. 

Wurden rassistische Verallgemeinerungen früher noch hinter vorgehaltener Hand geäußert, bekennen sich heute viele ganz offen dazu, und keineswegs nur Angehörige des rechten oder rechtsextremen Spektrums. Ganz unverblümt und entgegen sämtlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse wird Herkunft von viel zu vielen inzwischen als Faktor für Kriminalität betrachtet. Und betrunkene Rich Kids auf Sylt grölen in einem Club, in dem der Eintritt an diesem Abend 150 Euro kostete, ungeniert und ohne Angst vor Konsequenzen "Ausländer raus!"

An dieser Verrohung der Debatte und der damit einhergehenden Entmenschlichung von Migrant*innen ist die Politik keineswegs unschuldig. Sie hat es nicht nur verpasst, den Parolen der AfD rechtzeitig etwas entgegenzusetzen, sondern ist mittlerweile in großen Teilen selbst auf den Zug aufgesprungen. Abgesehen davon, dass das auch taktisch dumm ist, weil Wähler*innen stets das Original wählen und keine schlechte Kopie: Eine klare und eindeutige Absage an die Menschenwürde. 

Dieses Desinteresse setzt sich dann übrigens fort in einer Praxis, in der die Bundesregierung eklatante Menschenrechtsverletzungen von Staaten wie Tunesien, Marokko und Mauretanien nicht nur ignoriert, sondern sogar finanziert – weil der sinnfreie Zweck, Migration zu begrenzen, jedes Mittel heiligt.

Stolz? Seid lieber vorsichtig

Es ließen sich jetzt noch weitere Beispiele auflisten, doch belassen wir es für den Moment dabei. Wer mag, kann sich den Bericht von Amnesty International zur Menschenrechtslage in Deutschland 2023 durchlesen, der weitere Mängel auflistet.

Ich möchte niemandem absprechen, auf das Grundgesetz stolz zu sein. Im Gegenteil, es ist ein großartiges Dokument mit großartigem Anspruch. Doch gerade, wer auf die deutsche Verfassung stolz ist, sollte sich Sorgen machen, ob die Umsetzung in der Praxis nicht inzwischen erhebliche Mängel aufweist, und ob diese Entwicklung nicht eine ungute Dynamik entwickelt hat.

Menschenrechte sind nicht erreicht, weil ein Staat sie in einem Schriftstück garantiert. Das ist höchstens der Anfang, nicht das Ende. Menschenwürde muss immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden. Jeden Tag. Und zwar nicht nur für die, die wir mögen und schätzen, die unsere Meinung oder unsere Hautfarbe teilen. Sondern für alle. Sonst gibt es keinen Grund, stolz zu sein. 

Kommentare

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IStauch am So, 26.05.2024 - 15:17 Link

Herzlichen Dank für diese klare Stellungnahme insbesondere zum Umgang der deutschen und europäischen Politik mit geflüchteten Menschen. Ich wünsche mir sehr, dass diese Ausführungen aus der kirchlichen Ecke heraus und in weitverbreitete Medien kommen. Bitte streuen Sie diesen Beitrag möglichst weit.