Lange Wartezeiten auf einen Termin, Hektik im Klinik- und Praxisalltag, sehr kurze Arztkontakte: Immer mehr Patienten sind unzufrieden mit dem Gesundheitssystem. "Das Problem ist, dass Ärzte inzwischen unter keinen guten Bedingungen arbeiten müssen", sagt Karl-Heinz Schlee von der Nürnberger "Selbsthilfegemeinschaft Medizingeschädigter - Patient im Mittelpunkt" (SGM). Das stresse Ärzte - und führe nicht zuletzt auch zu Behandlungsfehlern.

Ärzte nicht an den Pranger stellen

Ärzte helfen in aller Regel, ohne zu zögern. Viele verausgaben sich, um ihren Patienten trotz eines oft immensen ökonomischen Drucks gerecht zu werden. Karl-Heinz Schlee weiß das. Deshalb sagt der SGM-Vorstand:

"Wir stellen die Ärzteschaft nicht an den Pranger."

Es gehe um "ungute Strukturen", die dazu führen können, dass Patienten geschädigt werden. Schlee ist indirekt von einem medizinischen Fehler betroffen: Seine inzwischen verstorbene Frau erhielt 2008 eine falsche Diagnose - und wurde dadurch bleibend geschädigt. Der SGM gehören bundesweit rund 400 Mitglieder an.

Beweislast liegt bei Patienten

Behandlungsfehler nachzuweisen, ist schwer - die Beweislast liegt beim Patienten, oft müssen die Geschädigten klagen. Dies empfänden viele Betroffene als "zweite, schlimme 'Operation'", sagt der 77-Jährige, der selbst 14 Jahre um die Anerkennung des Medizinschadens seiner verstorbenen Frau gekämpft hatte. Mitte Januar 2022 erhielt er vom Oberlandesgericht Nürnberg endlich recht.

Damit ist die Sache jedoch noch nicht ausgestanden, die verklagte Klinik will nun vor den Bundesgerichtshof. Als SGM-Vorstand begleitet Schlee im Moment 30 Menschen, die sich wegen eines groben Behandlungsfehlers an die Selbsthilfegemeinschaft gewandt haben.

Zahl der medizinischen Fehler nicht bekannt

Wie viele medizinische Fehler pro Quartal in Deutschland an Patienten "passieren", ist nicht bekannt. Denn das wird nirgends exakt erfasst. "Wir haben eine große Lücke", beklagt denn auch Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Haftpflichtversicherer hätten Zahlen, auch die Schlichtungsstellen der Ärztekammern sowie der Medizinische Dienst:

"Doch diese Zahlen sind absolut nicht aussagekräftig."

Das Problem beginne damit, dass Patienten Schäden oft gar nicht erkennen würden. Und selbst wenn ein Patient überzeugt ist, dass er falsch behandelt wurde, fehlten oft Mut und Kraft, eine Aufklärung in der Klinik oder Praxis einzufordern.

Was Patienten helfen würde

Damit Patienten eine reelle Chance haben, dass der Behandlungsfehler anerkannt wird, müsste es Beweiserleichterungen geben. Nachdem viele Fälle aktuell von vornherein als aussichtslos eingestuft werden, kann auch die Nürnberger Selbsthilfegemeinschaft meist nichts anderes tun, als den betroffenen Menschen zuzuhören, sagt Karl-Heinz Schlee. Das Schlimmste für die Geschädigten sei, wie verständnislos das Umfeld oft reagiert:

"Man wird als 'Loser' hingestellt, als jemand, der selbst etwas falsch gemacht hat."

Den 30 Geschädigten, die von der SGM derzeit unterstützt werden, stehen um die 300 Betroffene gegenüber, denen "nur" Zuspruch gespendet werden kann.

Medizingeschädigte befindet sich oft in einer äußerst schwierigen Lage, bestätigt Florian Friese, Fachanwalt für Medizinrecht aus München. Nicht nur, dass ihr Traum geplatzt ist, wieder gesund zu werden: Sie fühlen sich sogar noch kränker als vor Beginn der Therapie.

Friese hatte es unlängst mit einem Patienten zu tun, bei dem während einer Operation Darminhalt in den Bauchraum gelangt war, was schwere Entzündungen ausgelöst hatte. Mehrere Tage blieb dies unentdeckt. Als Konsequenz musste ein künstlicher Darmausgang gelegt werden. In diesem Fall kam es zu einer Schlichtung. Der Geschädigte erhielt 430.000 Euro Schadensersatz.

Kein nationales Fehlerregister

Sind nun in Bayern übermäßig hohe Zahlen von Behandlungsfehlern zu beklagen? Gibt es innerhalb Deutschlands Bundesländer, wo es besser läuft? Auch die Medizinischen Dienste, die im Jahr 2020 fast 14.050 Gutachten zu Vorwürfen von Behandlungsfehlern angefertigt haben, können dazu nichts sagen.

Es werde hier nur ein Teil der Verdachtsfälle begutachtet, bestätigt Andreas Timm vom Medizinischen Dienst (MD) Bayern. Viele Verdachtsfälle kämen dem MD gar nicht zur Kenntnis. "Ein nationales Behandlungsfehlerregister, über das sich die Gesamtzahl der Verdachtsfälle und gutachterlich bestätigten Fehler ermitteln ließe, existiert nicht", sagt er.

In vielen Fällen gibt es Alternativen zur OP

Manchmal gibt es für Behandlungen keine Wahl. So kann eine bestimmte OP unabdingbar sein, um Leben zu retten. Doch in vielen Fällen besteht die Möglichkeit einer konservativen Behandlung als Alternative, sagt Anwalt Florian Friese. Nach seiner Kenntnis werden Patienten hierüber nicht immer gut aufgeklärt:

"Wirbelsäulenoperationen zum Beispiel werden in Deutschland viel häufiger durchgeführt als in anderen europäischen Ländern."

Ähnlich sehe es bei Knieprothesen aus. In diesen Fällen werde auch nicht immer gesagt, dass eine Operation nicht unbedingt Erfolg versprechend ist. Oder dass sie das Leiden in Einzelfällen sogar verschlimmern kann.