Kinder aus ärmeren Haushalten und aus Familien mit bestrafendem Erziehungsstil lügen mehr. Aber: Mit Zuwendung kann man diese Schieflage zumindest in Teilen ausgleichen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die maßgeblich vom Bildungs- und Verhaltensökonom Fabian Kosse geleitet wurde. Kosse ist inzwischen Professor an der Uni Würzburg und Inhaber des Lehrstuhls für "Data Science in Business and Economics". An der Studienleitung beteiligt waren auch der Bonner Wirtschaftswissenschaftler Armin Falk und der "Lügen-Experte" Johannes Abeler von der Universität in Oxford.

Herr Kosse, Sie haben mit Kollegen in einer Studie untersucht, wie ehrlich Kinder aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen sind. Wie kann man so etwas überhaupt wissenschaftlich testen?

Fabian Kosse: Es gibt zwei Ansatzpunkte bei unserer Untersuchung. Zum einen haben wir auf Daten aus Köln und Bonn aus dem Jahr 2011 zurückgegriffen. Damals wurden Familien befragt, in denen zwischen September 2002 und August 2004 Kinder geboren wurden - zu ihrem Einkommen, ihrem Bildungs- und Familienstand und zum Erziehungsstil. Zum anderen haben wir mit einem Würfelexperiment getestet, wie ehrlich diese Kinder sind. Sie sollten vorhersagen, welche Augenzahl sie würfeln. Wenn die Vorhersage richtig war, haben sie 2,50 Euro gewonnen. Die Kinder waren beim Würfeln unbeobachtet. Statistisch gesehen hätte nur ein Sechstel der Antworten richtig sein dürfen. Letztlich waren es angeblich mehr als 60 Prozent richtige Vorhersagen.

"Kinder aus Familien, in denen ein bestrafender, kalter Erziehungsstil gelebt wird, lügen häufiger"

Das heißt: Wenn man unbemerkt schummeln kann, dann tun das auch viele. Inwiefern spielen dabei die sozialen Verhältnisse, das Bildungsniveau und die Erziehungsstile eine Rolle?

Eines sei vorweg noch gesagt: Nicht zwischen allen Ergebnissen besteht ein kausaler Zusammenhang. Was wir sicher sagen können: Kinder aus Familien, in denen ein bestrafender, kalter Erziehungsstil gelebt wird, lügen häufiger. Aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen, die Angst vor Strafen haben, lügen, um nicht bestraft zu werden. Ein anderes Ergebnis ist, dass Kinder aus reicheren Familien in unserem Experiment ehrlicher waren. Ehrlicherweise können wir aber gar nicht so genau sagen, woran das liegt. Das wäre bei der gegebenen Datenlage auch nicht seriös. An dieser Stelle haben wir in unserer Studie eher Dinge beschrieben und weniger eingeordnet.

Die sozialen Verhältnisse sind das eine - aber der Erziehungsstil ist aus wissenschaftlicher Sicht doch eher ein weicher Faktor. Welche Aussagekraft haben die Ergebnisse dann?

Ökonomen glauben oft, dass sie alles erklären können und besser wissen - in diesem Fall haben wir aber auf etablierte Fragebögen aus der Psychologie, Entwicklungspsychologie und Soziologie zurückgegriffen. Da wurde nicht einfach nur platt die Selbsteinschätzung zum Erziehungsstil abgefragt - es wurden eine ganze Reihe an Fragen gestellt, deren Antwort am Ende ein Gesamtbild ergeben. Diese standardisierten Fragebögen wurden schon oft und in verschiedenen Zusammenhängen genutzt und sind allgemein anerkannt.

"So ein Vertrauensverlust ist nicht nur schlecht für die Wirtschaft, sondern letztlich auch für die ganze Gesellschaft"

Das ist zwar irgendwie interessant - aber am Ende fragt man sich schon ein bisschen: Worin genau liegt denn der Erkenntnisgewinn außerhalb des Wissenschaftsbetriebs?

Wir alle gehen jeden Tag Dutzende Verträge ein - zum Beispiel, wenn wir beim Bäcker einkaufen. Wir schließen einen Kaufvertrag, in dem nicht jedes Detail geregelt und überprüfbar ist. Ökonomen nennen das unvollständige Verträge. Diese ganzen Verträge funktionieren nur, weil wir ein gewisses Grundvertrauen in unser Gegenüber haben. Wir erwarten, dass das vom Bäcker als fluffig und knusprig angepriesene Brötchen auch so ist. Wenn wir jetzt aber alle anfangen würden, uns den ganzen Tag anzulügen, würden sehr viele von diesen Kaufverträgen und damit auch der ökonomische Austausch insgesamt nicht mehr funktionieren. So ein Vertrauensverlust ist nicht nur schlecht für die Wirtschaft, sondern letztlich auch für die ganze Gesellschaft.

Das klingt jetzt sehr problem- und wenig lösungsorientiert...

Bis zu diesem Punkt ja - aber unsere Untersuchung hatte schließlich noch einen finalen Baustein. Wir haben untersucht: Was passiert mit den Kindern aus eher sozial benachteiligten oder bildungsfernen Familien, wenn sie am Mentoring-Programm "Balu und Du" teilnehmen. Dabei verbringen ehrenamtliche Mentorinnen und Mentoren etwa ein Jahr lang jeweils einen Nachmittag pro Woche mit den Kindern - beispielsweise, um gemeinsam zu basteln, zu kochen oder Sport zu machen. Dieses Programm zielt darauf ab, den Horizont der Kinder durch soziale Interaktion mit einer neuen Bezugsperson zu erweitern und Vertrauen aufzubauen.

Und das Ergebnis?

Kurz und knapp: Kinder, die eine Mentorin oder einen Mentor hatten, logen anschließend weniger. Das ist ein kausales Ergebnis, weil die Zuteilung, wer am Programm teilnimmt und wer nicht, rein zufällig war. Weil beide Gruppen, mit und ohne Mentoren, zahlenmäßig groß waren, wissen wir, dass alle Unterschiede bei den Kindern, die nach diesem Testzeitraum aufgetreten sind, auf das Mentoren-Programm zurückzuführen sind.

"Wer im familiären Umfeld bereits Vertrauen und Wärme erfährt, bei dem hat das Mentoren-Programm in Bezug auf Schummeln keine Auswirkung"

Das heißt: Je schlechter die Startbedingungen sind, desto häufiger lügen Kinder. Und je mehr man sich um die Kinder kümmert, desto ehrlicher werden sie?

Durch die Teilnahme an "Balu und Du" gewinnen die Kinder neue Perspektiven und erfahren zusätzliche Zuwendung und Vertrauen. 44 Prozent der Kinder haben nach der Teilnahme am Mentoren-Programm beim Würfelexperiment geschummelt - in der Kontrollgruppe ohne Mentoren-Programm waren es 58 Prozent. Das ist ein deutlicher Unterschied, der auf die Mentorinnen und Mentoren zurückzuführen ist. Was wir auch noch herausgefunden haben: Kinder, die zu Hause einen bestrafenden Erziehungsstil erleben, reagieren stärker auf den Mentor. Oder anders gesagt: Wer im familiären Umfeld bereits Vertrauen und Wärme erfährt, bei dem hat das Mentoren-Programm in Bezug auf Schummeln keine Auswirkung.

Die Studie basiert auf Daten aus Köln und Bonn - und Befragungen der dortigen Familien. Inwiefern lässt das Schlüsse auf ganz Deutschland zu oder gar weltweit?

Bei weltweit wäre ich vorsichtig. Wir haben die regionalen Unterschiede in der Bevölkerungsstruktur herauszurechnen versucht. Die Zahl der Alleinerziehenden oder wirtschaftlich schwächeren Familien ist im städtischen Umfeld größer als auf dem Land. Das Mentoring-Programm "Balu und Du" ist bundesweit aktiv. Daher glaube ich, dass sich die beschriebenen Effekte auf ganz Deutschland übertragen ließen.

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