Das Auschwitz-Drama "The Zone of Interest" war einer der Abräumer bei den diesjährigen Oscars. Der Streifen von Jonathan Glazer zeigt nüchtern den Alltag von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß und seiner Familie in unmittelbarer Nähe des Vernichtungslagers: So spielen etwa die fünf Kinder vergnügt im Garten der Familienvilla, während im Hintergrund Rauch aus den Krematorien aufsteigt. In dem KZ wurden bis 1945 mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet.
Kai Uwe Höss hat sich den Film nicht angesehen. Stattdessen ist der Enkel von Rudolf Höß selbst nach Auschwitz gefahren. "Ich habe während dieser Woche viel geweint", sagt Höss. Fassungslos macht ihn einerseits die Perfektion und Akribie, mit der sein Großvater vorging. So dachte er sich ein todsicheres Kennzeichnungssystem für die KZ-Häftlinge aus: die Auschwitz-Tätowierungen.
Kai Uwes Großvater war der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß
Auf der anderen Seite seien da die Erzählungen seines eigenen Vaters Hans-Jürgen, dem zweitjüngsten der fünf Höß-Kinder, der seinen Vater Rudolf Höß stets als fürsorglich und liebevoll beschrieben habe. Kai Uwe Höss erzählt von dem unterirdischen Gang, der von der Dienstvilla in Auschwitz direkt ins Lager führte:
"Wenn er dort durchging, wandelte er sich vom liebevollen Familienvater zum pflichtbewussten Massenmörder."
Kai Uwe Höss ist 62. Seinen Großvater, der 1947 zum Tode verurteilt und gehängt wurde, kennt er nur aus dessen Tagebuchaufzeichnungen und den Erzählungen seines Vaters. Seine Großmutter Hedwig, Ehefrau von Rudolf Höß, erlebten der kleine Kai Uwe und sein jüngerer Bruder Rainer hingegen immer wieder.
Zwar habe sie nur sehr selten von früher erzählt, erinnert sich der Enkel. Aber wenn sie davon gesprochen habe, sei deutlich geworden, dass sie den Sozialdarwinismus, auf den sich die Nationalsozialisten beriefen, nach wie vor befürwortete: "In ihrer Weltsicht kamen nur die Stärksten durch." Sie sei bis zum Ende ihres Lebens in dieser Ideologie gefangen gewesen. Hedwig Höß starb 1989, als sie ihre Tochter Ingebrigitt in den USA besuchte. Sie ist in Arlington begraben. Auf ihrem Grabstein steht kein Name. Nur "Mutti".
Auch in Kai Uwes Elternhaus im württembergischen Walheim (bei Ludwigsburg) wurde nur selten über die Vergangenheit gesprochen. Vater Hans-Jürgen schien überfordert von dem diabolischen moralischen Erbe. Seiner Frau Irene hatte er lange nichts von seiner Herkunft erzählt. Die Ehe scheiterte letztlich. Hans-Jürgen Höß suchte anderswo nach Halt, schloss sich den Zeugen Jehovas an.
Familiäres Erbe stets gegenwärtig
Trotzdem blieb das familiäre Erbe auch für Kai Uwe Höss stets gegenwärtig - allein schon wegen des Namens. "Spätestens wenn in der Schule der Nationalsozialismus drankommt, wird man auf den Namen angesprochen", erzählt er. Das sei selbst seinen vier Kindern noch so gegangen: "Wer will schon mit Rudolf Höß verwandt sein?" Die Schreibweise änderte Kai Uwe Höss später wegen der zahlreichen beruflichen Stationen im Ausland, wo man kein "ß" kennt.
Er wollte der familiären Enge beizeiten entfliehen. Nach der Schule ließ sich zunächst zum Koch ausbilden, ging mit der Bundeswehr nach Großbritannien, studierte Hotelmanagement - und machte international Karriere. Er arbeitete als Manager für Fünf-Sterne-Häuser in Macao und Hongkong, Kairo und Dubai, Singapur und Bali - wo er auch seine Frau Rahma kennenlernte. "Mein Lebensmotto damals lautete: work hard, play hard. Ich war ziemlich arrogant und selbstverliebt." In seiner knapp bemessenen Freizeit feierte er Partys und genoss das Leben auf der Überholspur.
"Aber ich fühlte mich innerlich leer."
Eine Zäsur brachte eine missglückte Operation, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Im Krankenhaus fand er im Nachttisch eine Bibel. "Ich erinnerte mich an viele der biblischen Geschichten, die uns unsere sehr gläubige Urgroßmutter als Kinder erzählt hatte." Im Frühjahr 1989 habe er sich entschieden, fortan ganz bewusst als Christ zu leben, erzählt Höss. Infolgedessen hätten sich auch seine Werte und seine Lebensziele verändert. Schließlich kehrte er dem Hotelmanagement den Rücken und widmete sich der Verkündigung der christlichen Botschaft.
Freikirchliche Gemeinde gegründet
2003 gründete er zusammen mit anderen Christen die freikirchliche "Bible Church of Stuttgart - Bibelgemeinde Stuttgart e.V.". Die englischsprachige Gemeinde hat rund 100 Mitglieder. Höss‘ zentrales Thema ist die Gnade. "Aus ihr leben wir alle, nicht aus unserer Leistung heraus oder weil wir so toll wären", sagt er. Den Luxus von früher vermisse er nicht. "Ich halte es mit dem Apostel Paulus, der gesagt hat: Mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden." Man nimmt ihm das ab. Damit das Geld reicht, unterrichtet Höss neben seiner Tätigkeit als Gemeindeleiter Führungskräfte in Business-Englisch.
Kai Uwe Höss wirkt im Reinen mit sich und der Welt - wenngleich sein Name wohl immer eine Hypothek bleiben wird. Der Familienvater hat sich ausgiebig mit dem Vers aus dem Alten Testament beschäftigt, in dem es heißt, dass Gott "die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied" heimsuchen wird (4. Mose 14,18). Das beträfe auch noch seine Kinder und Enkel. "Aber Jesus kann jeden Fluch brechen. Er ist denen gnädig, die an ihn glauben", ist der Enkel von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß gewiss.
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